Wer durch die Moore Street Markthalle im Osten von Williamsburg in Brooklyn läuft, merkt es sofort: Äpfel unter einem Dollar und eine große Flasche Mundspülung für drei Dollar, das sind nicht die Preise vom Supermarkt nebenan. Hier funktioniert seit 85 Jahren das, was New Yorks neuer Bürgermeister Zohran Mamdani mit seinen städtischen Supermärkten verwirklichen will: Die Stadt vermietet die Marktgeschäfte günstig, im Gegenzug halten die Händler ihre Preise für Kaffee, Empanadas oder eben Drogerieartikel niedrig. Im hinteren Teil der Halle erinnert eine Steintafel an den progressiven Bürgermeister Fiorello H. La Guardia, unter dessen „Behörde für Märkte“ sie 1940 eingerichtet wurde. Heute gibt es in der Stadt noch vier weitere solche Markthallen, sowie einen Open-Air-Markt nach demselben Prinzip.
Der „Sozialismus“, den Mamdani mitnichten neu erfinden will, hat in New York eine lange Tradition. Denn wenn Amerikaner – abgesehen von Beschimpfungen – Sozialismus sagen, meinen sie häufig nicht die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Sie denken eher an das, was in Europa unter öffentlicher Daseinsvorsorge läuft und in den USA nicht selbstverständlich ist. In diesem Sinne kann Mamdani sich auf etliche Vorgänger berufen.
Das New York der Arbeiter
Initiativen für erschwingliches Wohnen schufen unter La Guardia und anderen Bürgermeistern nicht nur fast zweihunderttausend Sozialwohnungen, sondern auch ein System der Mietenkontrolle, das Mamdani sichern und erweitern will. New Yorker, die ein geringes oder kein Einkommen haben, können außer Medicaid auch die städtische Krankenversicherung MetroPlusHealth in Anspruch nehmen, häufig beitragsfrei. Bis 1976 zahlten Studenten an der städtischen City University (CUNY) keine Gebühren, heute oftmals nur niedrige Beiträge. Und in der Debatte um die geplanten Gratisbusse geht oft unter, dass zehntausende Menschen täglich mit der Staten Island Fähre pendeln, deren 50-Cent-Tickets Bürgermeister Rudy Giuliani vor 28 Jahren abschaffte.
Dass es diese Angebote gibt, heißt nicht, dass ihre Qualität einwandfrei wäre oder dass sie das Armutsproblem in der Stadt lösten. Im Gegenteil, viele der „sozialistischen“ Dienstleistungen sind mangelhaft: Armen Menschen steht mit den öffentlichen Versicherungen meist nur die nötigste Gesundheitsversorgung offen. Viele müssen in maroden Sozialwohnungen oder Obdachlosenheimen leben. Andere Initiativen könnte man „Sozialismus für die Reichen“ nennen. So wurde das Prestigeprojekt Hudson Yards mit Milliarden Dollar öffentlichen Bundesmitteln gebaut, die zum Teil ursprünglich für die Wirtschaftsförderung in Harlem gedacht waren. Denn Korruption gehört auch zur Geschichte progressiver wie konservativer Stadtregierungen.
Die Moore Street Markthalle erinnert daran, dass die mehr als zwei Millionen Menschen, die in einer Stadt mit 120 Milliardären an oder unter der Armutsgrenze leben, Besseres verdient haben. Mamdani hat die Chance, einen neuen Anlauf zu starten, um die krasse Ungleichheit zu verringern – ob man das nun Sozialismus nennt oder nicht.
Source: faz.net