Wie gehen Sie bei der Zielgruppendefinition vor?
In der Arbeit mit den Sinus-Milieus definieren wir zusammen mit dem Kunden eine Kernzielgruppe, sozusagen ein Epizentrum, auf das sich die Zielgruppenarbeit fokussiert. Das ist beispielsweise das Milieu, das man bereits sehr gut erreicht und halten möchte. Zusätzlich ist es hilfreich Potenzialzielgruppen zu bearbeiten. Das sind Milieus, die man in der Zukunft noch erreichen will.
Dabei kann man den Vorteil nutzen, dass es zwischen benachbarten Milieus häufig Ausstrahlungs- und Mitnahmeeffekte gibt. Fokussiert man beispielsweise die Adaptiv-Pragmatische Mitte, erreicht man zusätzlich auch noch einen Teil der Nostalgisch-Bürgerlichen. Damit zeigen die Sinus-Milieus, was mehrere, auf den ersten Blick unterschiedliche Zielgruppen verbindet, aber auch, was sie voneinander trennt. Dabei muss man aufpassen, dass man Zielgruppen strategisch gut wählt und kombiniert, damit man sie nicht gegenseitig verprellt.
Wie helfen die Sinus-Milieus ganz konkret dabei, die Konsumentinnen und Konsumenten zu verstehen?
Wenn man mit den Sinus-Milieus arbeitet, ist das ungefähr so, als würde man sich die Brille eines anderen Menschen aufsetzen und nun die Welt mit den Augen dieser Person sehen. Es gelingt, Menschen und die Gesellschaft von innen heraus, jenseits von äußeren Merkmalen wie Alter, Geschlecht oder Einkommen zu verstehen – Stichwort: Friedrich Merz und Helge Schneider.
Mit dem Wissen rund um die Sinus-Milieus können wir an alle Stufen des Innovations- und Produktlebenszyklus unserer Kunden andocken. Die Sinus-Milieus können für jede Zielgruppe z.B. aufzeigen, welche unterschiedlichen Motive, Präferenzen oder Zugänge hinter einem konkreten Verhalten stehen. Das ist etwa wichtig für die Produktentwicklung oder das Marketing. Zudem können wir bis auf die Straßenebene aufzeigen, wo welches Milieu in Deutschland wohnt – relevante Insights für Out of Home-Kampagnen.
Könnten Sie uns das anhand eines Beispiels erklären?
Schauen wir uns Nachhaltigkeit im Milieu der Performer an, der Businesselite unserer Gesellschaft. Diese Menschen kaufen auch Bio, aber nicht aus einer Öko-Überzeugung heraus, sondern eher wegen Qualitäts- und Geschmacksaspekten. Sie wollen sich mit Bio also vielmehr selbst etwas Gutes tun, nicht so sehr der Umwelt oder dem Planeten. Entsprechend findet man in diesem Milieu zwar Bio-Käufer, aber selten Menschen, die aus Nachhaltigkeitsüberzeugungen weniger reisen. Hingegen ist das Traditionelle Milieu, die klassische Kriegs- oder Nachkriegsgeneration, überraschenderweise ein sehr nachhaltiges Milieu. Das sind Menschen, die wenig reisen und sparsam leben. Hier weiß man auch noch, wie man einweckt und einfriert und, dass man im Winter keine Erdbeeren isst.
Da wird dann auch nicht mehr so viel Mode geshoppt…
Genau. Die guten Sachen, z.B. für besondere Anlässe wie Geburtstage, Hochzeiten oder Beerdigungen, hat man schon seit Jahren. Im Alltag wird beim Kochen eine Schürze getragen, damit nichts schmutzig wird. Traditionelle kleiden sich nicht ständig neu ein, sondern flicken auch mal was. Im Ergebnis ist das ist viel nachhaltiger als andauernd Neues zu kaufen.
Welche Rolle spielt Mode in den einzelnen Milieus, was ist da typisch?
Kleidung ist wie eine Art soziale Haut und die getragene Mode und der Zugang dazu unterscheidet sich sehr zwischen den Milieus. Auch wenn Sie in den Kleiderschrank einer Person schauen, bekommen Sie einen ziemlich guten Eindruck davon, wie diese Person tickt. Die Konservativ-Gehobenen etwa bevorzugen als das klassische Establishment unserer Gesellschaft hochwertige, dezente Kleidung. Hier erwartetet man, dass die Fachverkäuferin beim Herrenausstatter die Kragenweite auswendig kennt. Ein anderes Beispiel: Die Adaptiv-Pragmatische Mitte trägt das, was in der Fußgängerzone oder bei Zalando Bestseller sind und unkompliziert gekauft werden kann. Hier denkt man „Wenn gerade viele diesen einen Sneaker kaufen, kann ich damit nichts falsch machen“. Die Expeditiven wiederum sehen Mode als Ausdruck ihrer Individualität. Sie mixen beispielsweise Vintage-Designerteile mit H&M-Shirts, shoppen bei Vinted, jagen bei Vestiaire Collective nach Unikaten und gehen gerne in ästhetisch inszenierte Concept Stores. Für die Konsum-Hedonisten ist – wie ihr Name schon sagt – Konsum identitätsstiftend. Nicht nur bei Mode setzen sie auf den Wow-Effekt, Körperinszenierung und starke Markenpräsenz. Hier sind auch kosmetische Chirurgie, ästhetische Medizin, Piercings und Tattoos ein Thema – die anderen sollen einen wahrnehmen und denken, dass man sich etwas leisten kann und besonders viel Spaß im Leben hat.
Wer kauft bei Discountern wie Primark, Kik und Co?
Vor allem finanzschwächere Milieus, aber auch Teile der Mitte-Milieus. Hier zählt das Preis-Leistungs-Verhältnis, die typisch pragmatische Haltung ist: Warum viel zahlen, wenn ich mich auch günstig kleiden kann und dazu auch noch modisch aussehe? Die Mitte-Milieus finden Sie z.B. bei auch bei Breuninger, aber eher bei Sale-Aktionen oder einfach zum Schauen.