Zeitgeschichte – 1964: Italiens KP-Pilot Togliatti warnt die KPdSU vor einem Bruch mit welcher KP Chinas

Palmiro Togliattis letzter, posthum veröffentlichter Text, das „Memorandum von Jalta“, blieb über seinen Tod hinaus einer der wichtigsten. Der langjährige Generalsekretär des Partito Comunista Italiano (PCI) war im Sommer 1964 in die Sowjetunion gereist, um strategische Differenzen mit der KPdSU zu klären. Das dazu von ihm verfasste Memorandum entstand im Vorlauf zu einem persönlichen Gespräch mit Nikita Chruschtschow, damals Erster Sekretär der KPdSU – doch dazu kam es nicht mehr. Am 21. August, wenige Tage nach seiner Ankunft auf der Krim, starb Togliatti im Alter von 71 Jahren nach einem Schlaganfall an einer Hirnblutung. Sein Memorandum wurde am 5. September im PCI-Zentralorgan L’Unità und in der Wochenzeitung Rinascita abgedruckt. Entschieden hatte das Togliattis Nachfolger Luigi Longo (1900 – 1980). Fast zeitgleich erschienen Übersetzungen in der Pariser Tageszeitung Le Monde und im Ostberliner Neuen Deutschland.

In der Sowjetunion unterblieb ein Abdruck, dabei waren Inhalt und Ton alles andere als provokatorisch, vielmehr getragen von der Sorge um die Perspektiven der kommunistischen Weltbewegung, besonders den sich seinerzeit zuspitzenden Konflikt zwischen deren mächtigsten Kräften, der sowjetischen und der chinesischen KP. Begonnen hatte dieser Streit schon 1956. Er eskalierte, nachdem sich im März 1963 das ZK der KPdSU mit einem Offenen Brief an die chinesischen Genossen gewandt hatte. Darin enthalten war das zweifelhafte Angebot einer Debatte darüber, „wie der Sieg der sozialistischen Länder im friedlichen Wettbewerb mit dem Kapitalismus rascher und besser gewährleistet werden kann“. Das chinesische ZK antwortete mit insgesamt neun Kommentaren, mit denen sich Bücher füllen ließen. Die „Polemik über die Generallinie der internationalen kommunistischen Bewegung“ war eine Ansammlung scharfer Kritik am sowjetischen „Revisionismus“ und „Pseudokommunismus“, persönliche Beleidigungen inklusive. Die sowjetische Führung wurde als „von einem Clown angeführte Chruschtschow-Clique“ verhöhnt. Um diese Attacken zu kontern, plante die KPdSU eine internationale Konferenz kommunistischer Parteien. Togliatti hielt das für keine gute Idee. Es war klar, dass sich außer der chinesischen auch andere kommunistische Parteien verweigern würden, sodass der Riss vertieft und jede Vermittlung erschwert, wenn nicht unmöglich würde, mahnte Togliatti. Nach einem Zwischenstopp in Moskau, wo er Leonid Breschnew, damals zweiter Mann der KPdSU, getroffen hatte, fasste er in Jalta seine Argumente schriftlich zusammen. Es ging ihm, wie er eingangs betonte, um „die beste Methode, die chinesischen Thesen zu bekämpfen“, dabei aber die Kontroversen „sachlich und überzeugend und immer mit einem gewissen Respekt für den Gegner zu führen“.

Das gebot aus seiner Sicht schon die bedrohliche Weltlage. „Von den USA geht heute die größte Gefahr aus“, schrieb er. Nach der Ermordung John F. Kennedys im November 1963 gebe es dort eine Offensive reaktionärer Gruppen, die sich mit ähnlichen Kräften Westeuropas zu verbünden suchten. Zudem drohe bei der bevorstehenden US-Präsidentschaftswahl ein Sieg des republikanischen Kandidaten Barry Goldwater, „der den Krieg in sein Programm aufgenommen hat und wie ein Faschist redet“. Den Fahrt aufnehmenden US-Krieg in Südvietnam erwähnte Togliatti nur am Rande als Teil einer imperialistischen Politik des „Neokolonialismus“, die sich ebenso gegen die „jungen unabhängigen Staaten Afrikas“ richte. All dies erfordere „die Einheit aller sozialistischen Kräfte in einer gemeinsamen Aktion gegen die reaktionärsten Gruppen des Imperialismus, auch über die ideologischen Differenzen hinweg“.

Man dürfe die chinesischen Genossen aus dieser Einheitsfront nicht vertreiben. Ebenso notwendig sei es, dass die kommunistischen Parteien in den kapitalistischen Zentren mit den Befreiungsbewegungen der kolonialen und ehemals kolonialen Länder kooperierten. Innenpolitisch müssten die Kommunisten ebenfalls auf breite Allianzen setzen, auch mit der „organisierten katholischen Welt“, wo es seit 1958, mit Beginn des Pontifikats von Johannes XXIII., zu einer „deutlichen Verschiebung nach links“ gekommen sei, so Togliatti. Die „alte atheistische Propaganda“ sei gegenüber den katholischen Massen nutzlos. Diese Position hatte Togliattis Vorgänger Antonio Gramsci (1891 – 1937) schon 1917 vertreten, als er gegen den in der italienischen Linken verbreiteten „dummen Antiklerikalismus“ polemisierte, der damals einem Bündnis mit jungen katholischen Kriegsgegnern im Wege stand. Fast ein halbes Jahrhundert später freilich konnte Togliattis Verweis auf die „organisierte katholische Welt“ sehr viel weiter ausgelegt werden. Denn in Italien wurde nach 1945 die Partei Democrazia Cristiana (DC) zur am besten organisierten Kraft des politischen Katholizismus.

Annähern sollten sich PCI und DC allerdings erst in den 1970er Jahren unter dem Generalsekretär Enrico Berlinguer (1922 – 1984), einem der Mitbegründer des Eurokommunismus. Dass indes Berlinguers kurzlebige, im Ergebnis für den PCI desaströse Politik des „historischen Kompromisses“ mit der Christdemokratie im Sinne Togliattis und seines „Memorandums“ gewesen wäre, ist fraglich.

Italienischer Weg

Nirgendwo wurde das „Memorandum von Jalta“ ernsthaft diskutiert, auch nicht in Italien. Lucio Magri (1932 – 2011), 1969 Mitglied der Il-Manifesto-Gruppe und Mitbegründer der gleichnamigen Zeitung, schrieb in seinem Erinnerungsbuch Der Schneider von Ulm, in dem er eine „mögliche Geschichte“ des PCI erzählt: „Als ich das Memorandum viel später wieder las, ist mir aufgefallen, was in diesen Notizen wirklich an Neuem steckte.“ Nicht neu war das Bekenntnis zu einem „italienischen Weg zum Sozialismus“ und zum „Polyzentrismus“ der kommunistischen Weltbewegung. Beides hatte Togliatti schon 1956 proklamiert, damit aber, so Magri, noch „keine großen Ergebnisse“ erzielt. Gleichwohl wurde sowohl in Moskau wie in Peking der „italienische Weg“ als zu nahe an der Sozialdemokratie beargwöhnt.

Für Magri war das Neue in Togliattis letztem Text die „weitblickende Warnung“: „Ausgerechnet er, der seit Jahren eine Zielscheibe direkter, grobschlächtiger Polemik aus China gewesen war, wollte Moskau sagen: Vorsicht!“ Darüber habe er diskutieren wollen, darüber hätte der PCI nach seinem plötzlichen Tod diskutieren müssen, kritisiert Magri: „Doch auch seine italienischen Genossen verstanden ihn nicht, obwohl sie diesen Text sogleich publizierten.“ Lag das auch am „Manifest“ selbst, das für Magri einer ins Meer geworfenen „Flaschenpost“ ähnelte? Das Bild stammt von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Es bezeichnet eine Botschaft, die nicht an einen konkreten, sondern einen möglichen künftigen Adressaten gerichtet ist. Aber Togliatti war kein Philosoph, sondern Politiker und war es als Nummer eins der mächtigsten westeuropäischen KP gewohnt, klare Ansagen zu machen, wenn nicht gar verbindliche Direktiven zu geben.

Vielleicht überforderte er seine Partei, weil er zweigleisig argumentierte. Während er einerseits die „schändliche und zügellose Kampagne“ der Chinesen zurückwies, erwartete er zugleich von der Sowjetunion die „Überwindung des Regimes der Beschränkung und Unterdrückung der demokratischen und persönlichen Freiheiten“ in allen Bereichen. Es sei „in manchen Fällen nützlich“, wenn auch in den sozialistischen Ländern offene Debatten stattfinden würden, „an denen auch Führungskräfte teilnähmen“. Leider – das sagt der absichtsvoll verwendete Konjunktiv – gab es diese Debatten aus seiner Sicht nicht oder nicht in ausreichendem Maße, auch nicht im Mutterland aller Werktätigen. Ungeachtet des wohlmeinenden, fast unterwürfigen Tons – „in manchen Fällen nützlich“ – war das couragiert.

Möglicherweise kommt Lucio Magris politische Weggefährtin Rossana Rossanda (1924 – 2020) mit ihrer Deutung von Togliattis Absicht der Wahrheit am nächsten. Als eine von sehr wenigen Frauen in Führungspositionen des PCI, von Togliatti persönlich gefördert (und kontrolliert), hatte sie häufig mit ihm Kontakt und damit Einblick in seine Denkweise. Togliatti „machte es Spaß, der KPdSU Knüppel zwischen die Beine zu werfen“, schreibt Rossanda in ihrer Autobiografie Die Tochter des 20. Jahrhunderts. Er habe Chruschtschow nicht etwa überzeugen, sondern nur demonstrativ auf Distanz zur Moskauer Machtzentrale gehen wollen.

Dass Togliatti mit seinem „Memorandum von Jalta“ der Nachwelt ein bewusst so angelegtes Vermächtnis hinterlassen wollte, erscheint zweifelhaft. Zumal er ganz am Schluss andeutet, dass es über „die italienische Situation“ gewiss noch sehr viel mehr zu sagen gebe. Das aber sollte besser nachfolgenden „mündlichen Erklärungen“ vorbehalten bleiben. Doch dazu kam es nicht mehr.

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