„Würden Sie vereinigen LKW mit Nahrung vorbeiziehen lassen, wenn Ihre Kinder hungern? Nein!“

Nach dem Beschluss des israelischen Sicherheitskabinetts zur Einnahme der Stadt Gaza verschärft Deutschland den Druck. „Unter diesen Umständen genehmigt die Bundesregierung bis auf Weiteres keine Ausfuhren von Rüstungsgütern, die im Gazastreifen zum Einsatz kommen können“, heißt es in einer Pressemitteilung. Was das für den darbenden Küstenstreifen bedeutet, wird sich zeigen. Eines steht fest: Die Situation dort ist die schlimmste seit Kriegsbeginn vor zwei Jahren.

Besonders akut ist die Hungerkrise. So müssen 39 Prozent der Palästinenser in Gaza tagelang ohne Nahrung zurechtkommen. Wie hält man das aus? Und wieso geht die israelische Armee so hart gegen Menschen vor, die sich verzweifelt auf der Suche nach Lebensmitteln befinden? Laut einem UNO-Bericht sind 1.373 Palästinenser seit dem 27. Mai bei diesem Versuch gestorben. Corinne Fleischer war seit Kriegsausbruch viermal für das Welternährungsprogramm in Gaza. Hier sind ihre Schilderungen.

der Freitag: Frau Fleischer, Sie waren vor Kurzem wieder in Gaza. Was haben Sie dort erlebt?

Corinne Fleischer: Die Situation ist absolut dramatisch. In Gaza City sind Leute zu unseren Autos gekommen, haben die Hand vor den Mund gehalten und gesagt: ʾakl, ʾakl. Das ist das arabische Wort für Essen. Die Leute dort verbringen ihren Tag mit drei Sachen: Sie suchen Nahrungsmittel, sie suchen Holz zum Kochen, und sie suchen Wasser. Für mehr ist keine Zeit. Wenn man sie fragt: „Gehen Sie denn nicht auf die Märkte?“ – dann sagen sie: „Märkte sind ein Traum, den wir uns nicht leisten können.“ Tatsächlich kostet ein Kilo Zucker jetzt 15.000-mal mehr als vor dem Konflikt. Das muss man sich mal vorstellen: 15.000-mal! Das kann sich keiner erlauben.

Haben Sie noch persönliche Begegnungen vor Ort im Kopf?

Natürlich. Ich kann mich zum Beispiel an eine Mutter erinnern, der ich bei meinem letzten Aufenthalt begegnet bin. Sie hat mich unglaublich beeindruckt. Wenn ich in dieser Situation wäre – ich würde mir wünschen, so eine gute Mutter zu sein wie sie. Sie war Psychologin und hatte vor dem Krieg drei Häuser. Jetzt lebte sie in einem Zelt. Sie hat zu mir und meinen Kollegen gesagt: „Während des Waffenstillstands habt ihr genug Weizenmehl gebracht, dass ich vier Säcke voll Brot backen konnte – jetzt ist nur noch ein Viertel des letzten Sacks übrig.“ Meine Begegnung mit dieser Frau ist jetzt einen Monat her. Das Brot dürfte längst aufgebraucht sein.

In meinen 26 Jahren beim Welternährungsprogramm habe ich noch nie eine derart bedrohliche Lage erlebt

Wie viele Menschen sind akut vom Hungertod bedroht in Gaza?

Unsere Erhebungen zeigen, dass 500.000 Menschen kurz vor dem Verhungern sind. Eine von drei Personen geht mehrere Tage hintereinander ohne Essen ins Bett. Letztens hat uns eine Frau gesagt, dass ihre Kinder von einem Viertel Leib Brot am Tag leben müssen und sie selbst tagelang nichts isst. Das ist die Situation vor Ort.

Kanzleramtschef Thorsten Frei (CDU) hat gesagt: „Inzwischen kommen jeden Tag weit mehr Hilfslieferungen in den Gazastreifen, als zur Verhinderung einer Hungersnot notwendig wären.“ Hat er recht?

Während des Waffenstillstands hat die humanitäre Community 500 Lastwagen pro Tag nach Gaza gebracht. Das ist die Menge an Hilfsgütern, die notwendig ist. Jetzt bringen wir als Welternährungsprogramm pro Tag ungefähr 50, 60 LKWs nach Gaza – das ist bei Weitem nicht genug. 100 Lastwagen pro Tag wären das absolute Minimum, damit die Leute nicht verhungern. Zwischen März und Juni haben wir nur ein Viertel von dem, was gebraucht wird, nach Gaza bringen können.

Placeholder image-1

Wer trägt die Verantwortung für die Hungerkrise?

Sie hat mehrere Gründe. Zum einen sind nur zwei Grenzübergänge offen – das reicht nicht, um genug Lastwagen hereinfahren zu können. Innerhalb des Gazastreifens sind die vielen Checkpoints der israelischen Regierung ein Problem. An jedem dieser Punkte müssen wir warten, bis wir grünes Licht zum Weiterfahren erhalten. Das ist einer der Hauptgründe, warum unsere Transporte oft zehn, zwanzig oder noch mehr Stunden benötigen – insbesondere dann, wenn militärische Operationen stattfinden. Als ich vor einem Monat da war, hat unser Konvoi 48 Stunden gebraucht, um vom Grenzübergang Kerem Schalom zum Verteilungszentrum in Gaza und zurück in die Lagerhalle zu gelangen.

Und natürlich darf man auch die Verzweiflung der Bevölkerung nicht unterschätzen. Stellen Sie sich vor, Ihre Kinder haben seit Tagen nichts gegessen: Würden Sie dann einen Lastwagen mit Nahrungsmitteln vorbeiziehen lassen? Natürlich nicht! Sie würden versuchen, etwas zu ergattern. Das ist, was gerade passiert: Unsere Lastwagen werden von der verzweifelten Zivilbevölkerung zum Stillstand gebracht und die Nahrungsmittel entladen. Auch für unsere Teams ist das unglaublich gefährlich. In meinen 26 Jahren beim Welternährungsprogramm habe ich noch nie eine derart bedrohliche Lage erlebt. Das Traurige ist: Ausgerechnet Mütter mit Kindern oder ältere Personen gehen bei diesen „Selbstverteilungen“ meist leer aus.

Wir hatten 200 Verteilungszentren, zu denen Menschen per SMS eingeladen wurden – wegen des vorhersehenden Chaos funktioniert dieses System nicht mehr

Der Bundesnachrichtendienst sagt: 50 Prozent und mehr der Hilfslieferungen werden von der Hamas und organisierten Banden gestohlen. Stimmt das?

Wir haben keine plausiblen Berichte darüber, dass unsere Nahrungsmittel zu der Hamas gehen. Wenn das der Fall ist, soll man uns bitte Beweise dafür liefern. Dann werden wir uns das sofort ansehen und dagegen arbeiten. Was stimmt: Ein Teil wird von den Gangs geplündert, an ein paar mächtige Familien in Gaza. Das lässt sich nicht komplett vermeiden.

Jonathan Whittall, der Chef der UNO-Nothilfekoordination in den palästinensischen Gebieten, spricht davon, dass Israel „Hunger als Waffe“ einsetzt. Würden Sie das unterschreiben?

Alle, die uns nicht erlauben oder ermöglichen, Nahrungsmittel nach Gaza zu bringen, sind für die Lage verantwortlich. Das Welternährungsprogramm hat 170.000 Tonnen Lebensmittel in der Region – das ist genug, um die 2,1 Millionen Leute in Gaza fast drei Monate zu versorgen. Um diese Hilfsgüter sicher zu verteilen, bräuchten wir schnell ausgestellte Erlaubnisse der israelischen Regierung sowie Recht und Ordnung innerhalb von Gaza. Beides wäre am besten durch einen Waffenstillstand zu erreichen.

Seit Beginn des Krieges blockiert Israel die Einfuhr von Lebensmitteln nach Gaza – mal stärker, mal weniger stark. Warum?

Das müssen Sie die israelische Regierung fragen. Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Natürlich herrscht Krieg, und in einem Krieg ist die Lage extrem komplex. Die Bedingungen ändern sich ständig. Zuvor abgestimmte Routen werden täglich geändert. Meistens, weil dort gerade militärische Operationen stattfinden. Entscheidend ist: Es braucht den politischen Willen und die Bereitschaft, uns unsere Arbeit machen zu lassen. Wir haben alles, was wir dafür brauchen.

Seit einigen Monaten organisiert die Gaza Humanitarian Foundation die Verteilung der Hilfsgüter innerhalb des Küstenstreifens. Seitdem haben über 1.000 Palästinenser bei der Suche nach Lebensmitteln ihr Leben verloren. Wie konnte das passieren?

Wir arbeiten nicht mit der Gaza Humanitarian Foundation zusammen. Wir haben unser eigenes System – sie haben ihres. Unser System, das vor dem Krieg und zum Teil auch während des Waffenstillstands bestens funktionierte, hatte 200 Verteilungszentren, zu denen Menschen per SMS eingeladen wurden. Jede Person erhielt eine Nachricht mit dem Hinweis: „Heute ist dein Tag zur Abholung.“ Wir belieferten 25 Bäckereien mit Weizenmehl, damit dort Brot gebacken und verteilt werden konnte. Zusätzlich hatten wir 180 Gemeinschaftsküchen im Einsatz. Das ist unser System – wegen des vorhersehenden Chaos, geschaffen durch den Krieg und die Angst der Bevölkerung zu verhungern, funktioniert es nicht, und die Menschen vor Ort fragen uns ausdrücklich, wann wir wieder dazu zurückkehren. Denn unter diesem System erhielten sie ihre Nahrungsmittel auf geordnete Weise – ohne Gewalt, ohne Angst. Aktuell ist das aber nicht möglich.

Als Welternährungsprogramm haben wir 50 Jahre Erfahrung mit Luftabwürfen. Für gewöhnlich benutzen wir dieses Instrument als letzte Lösung, wenn die Straßen nicht zugänglich sind. Aber das ist nicht der Fall in Gaza

Wir sagen der israelischen Regierung ganz klar: Die Einsatzregeln müssen eingehalten werden. Es darf keine militärische Präsenz an unseren Verteilungszentren geben, keine militärische Begleitung unserer Konvois – und es darf nicht geschossen werden. Doch die Realität ist eine andere. Inzwischen geht die Gefahr nicht nur von außen aus, sondern auch von innerhalb der Bevölkerung. Die Verzweiflung ist so groß, dass es zu Gewalt zwischen den Menschen kommt – es wird geschossen, es fliegen Steine. Dieses Chaos ist die Lage, mit der wir es derzeit zu tun haben und der unsere Teams, die diese Konvois führen, täglich ausgesetzt sind.

Placeholder image-2

Seit dem 1. August wirft die Bundeswehr mit Flugzeugen Hilfsgüter über dem Gazastreifen ab. Wie sehr lindert das die Not vor Ort?

Als Welternährungsprogramm haben wir 50 Jahre Erfahrung mit Luftabwürfen in humanitären Krisen. Für gewöhnlich benutzen wir dieses Instrument als letzte Lösung, wenn die Straßen auf dem Boden nicht zugänglich sind. Aber das ist nicht der Fall in Gaza. Die Straßen sind zugänglich – wir können sie nur nicht benutzen. Außerdem haben Luftabwürfe viele Nachteile. Sie kosten zigmal mehr als Hilfstransporte mit dem Lastwagen. Außerdem kriegt man auf diesem Weg niemals die Menge transportiert, die vor Ort gebraucht wird. Zweitausend Tonnen Nahrung müssten wir pro Tag in den Gazastreifen transportieren, um die Hungerkrise zu stoppen. Dafür bräuchte es 130 Luftabwürfe pro Tag. Das ist völlig unmöglich. Deswegen verzichten wir derzeit komplett auf Luftabwürfe.

Gibt es noch Hoffnung für Gaza?

Ich war auch während des Waffenstillstands in Gaza und es war unglaublich zu sehen, wie schnell die Bevölkerung wieder Mut gefasst hat. Die Leute in Gaza sind unglaublich widerstandsfähig und tapfer. Aber jetzt sterben Leute vor Hunger und die Angst treibt ein Chaos, wo die legendär starke soziale Gemeinschaft zerstört wird. Gaza braucht dringendst einen Waffenstillstand, genügend Nahrungsmittel und Hilfsgüter – und Frieden.

Corinne Fleischer ist die Leiterin des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen für den Nahen Osten.

ArbeitAugustAutosBevölkerungBrotBundesnachrichtendienstBundesregierungBundeswehrCDUDeutschlandDreiEssenFamilienFleischerFliegenFreiFreitagGewaltHamasHäuserHilfslieferungenHolzIsraelJonathanKinderKochenKollegenKriegKrisenKurzLastwagenlebenLebensmittelMANMundNahrungNahrungsmittelNotOperationenPersonenRechtRegierungSelbstStarkThorstenUnoWaffenstillstandWasserWeilZeitZucker