World Food Programme: „Wir fragen kaum mehr nach den Ursachen“

Wir leben in Zeiten, die uns einiges Kopfzerbrechen bereiten. Deshalb fragen wir in der Serie „Worüber denken Sie gerade nach?“ führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Stimmen des öffentlichen Lebens, was sie gegenwärtig bedenkenswert finden. Die Fragen stellen Maja Beckers, Andrea Böhm, Christiane Grefe, Nils Markwardt, Peter Neumann, Elisabeth von Thadden, Lars Weisbrod oder Xifan Yang. Heute antwortet der Diplomat Martin Frick.

Martin Frick ist seit November 2021 Direktor des World Food Programme-Büros für Deutschland, Österreich und Liechtenstein. Zuvor war er u. a. als Klimachef der Welternährungsorganisation FAO tätig.

ZEIT ONLINE: Martin Frick, worüber denken Sie gerade nach?

Frick: Mich beunruhigt die unglaubliche Fragmentierung einer Welt, in der konstruktive Zusammenarbeit immer schwieriger zu werden scheint. Seit 25 Jahren arbeite ich als Diplomat – so extrem war die Belastung des Systems internationaler Regeln noch nie. Heute werden Grundsätze in Frage gestellt, die wir immer für gesetzt gehalten haben. Die internationale Solidarität und Ordnung, auf der sie beruhen, bekommt immer mehr Risse.

ZEIT ONLINE: Die Schriftstellerin Gioconda Belli hat Solidarität einmal als „Zärtlichkeit der Völker“ beschrieben. Warum spürt man diese Zärtlichkeit auch hierzulande derzeit kaum, wenn es um globale Zusammenarbeit und humanitäre Hilfe geht? Warum versuchen stattdessen Rechte, Konservative, auch Liberale, Wählerstimmen mit Spott über Fahrradwege in Peru und pauschalen Ressentiments gegen Geflüchtete einzufangen?

Frick: Zunächst sollte man festhalten, dass selbst rechts außen bislang niemand vernehmbar gesagt hat: „Uns ist es gleichgültig, wenn Menschen anderswo sterben“ – das scheint, zum Glück, noch Konsens zu sein. Öffentlich geäußerte Vorwürfe richten sich meist gegen angebliche Ineffizienz oder Korruption bei Entwicklungsprojekten und die vermeintliche Vernachlässigung Hilfsbedürftiger hierzulande. Das wird dann als Verschwendung von Steuergeldern wahrgenommen. Dagegen kann man mit Tatsachen gut argumentieren. Richtig ist aber, dass wir momentan fast nur noch darüber reden, wie Asylsuchende angeblich unsere sozialen Sicherungssysteme überlasten. Die Untertöne dieser Debatte sind bedenklich und wir fragen kaum mehr nach den Ursachen.

ZEIT ONLINE: Welche sind das vor allem?

Frick: Kriege, Hungersnöte, Naturkatastrophen als Folge des Klimawandels. Unsere Probleme mit Hochwassern in Europa etwa sind verschwindend gering im Vergleich zu jenen in Westafrika. Wie groß muss die Verzweiflung sein, ehe Menschen eine lange und gefährliche Reise antreten, um nicht mehr als das Existenzminimum zu suchen? Das führen wir uns kaum noch vor Augen. Deshalb sind wir Entwicklungspolitiker und humanitären Helfer tatsächlich in der Situation, etwas so Grundsätzliches wie Solidarität neu begründen zu müssen.

ZEIT ONLINE: Wie begründet man Solidarität neu?

Frick: Man kann sie als weiches außenpolitisches Instrument befürworten oder europäische Interessen vorbringen, etwa, dass es auch uns ins Taumeln bringt, wenn sich unser krisengeschüttelter Nachbarkontinent in Chaos auflöst. Aber vor allem sollten wir unsere eigene Identität im Blick haben: Wer wollen wir sein? Wie definieren wir Deutschland und Europa so, dass wir uns selbst weiter im Spiegel anschauen können?

ZEIT ONLINE: Warum sollten wir uns selbst in Frage stellen?

Frick: Wir als Teil des „Westens“ müssen ja feststellen, dass immer mehr Länder des Globalen Südens andere Kooperationspartner wie China oder Russland bevorzugen. Wir müssen uns also fragen: Warum gerät unser menschenrechtsbasierter Ansatz, unsere Art und Weise, internationale Konflikte zu vermeiden und zu moderieren, weltweit immer stärker unter Druck? Aus meiner Sicht ist es da entscheidend, dass wir das von uns gepredigte Modell glaubwürdiger leben und finanziell unterfüttern. Das gilt besonders für Deutschland.

ZEIT ONLINE: Warum?

Frick: Als Mitgliedsstaat der G7 ist die Bundesrepublik zu groß, um klein zu sein, und zu klein, um die Krisenregionen mit Flugzeugträgern zu stabilisieren. Wir können außenpolitisch am meisten bewirken, indem wir humanitäre Hilfe leisten und arme Länder dabei unterstützen, Resilienz gegen Krisen aufzubauen – womit wir letztlich auch Fluchtursachen adressieren. So wird unsere Rolle in der Welt auch wahrgenommen – und Taten sind lauter als Worte! Deshalb sollten wir uns nicht nur wieder öfter daran erinnern, dass Solidarität ein Teil unserer Menschlichkeit ist. Sondern wir sollten auch kritisch reflektieren, wie man die Lebensumstände der Menschen in Krisensituationen und in armen Ländern noch wirkungsvoller unterstützen kann.

ZEIT ONLINE: Woran fehlt es?

Frick: Es ist ja paradox: Wir haben uns einerseits fast schon daran gewöhnt, dass es Gegenden in der Welt gibt, in denen der Staat nicht mehr funktioniert. Zwei Drittel aller Hungernden leben in solchen Ländern, in denen elementare Grundrechte nicht mehr gewährleistet sind. Andererseits konzentrieren wir uns bislang darauf, in einem System internationaler Ordnung mit den Regierungen eben solcher Staaten zu agieren. Das reicht nicht mehr.

ZEIT ONLINE: Was wäre die Alternative?

Frick: Wir müssen viel stärker unmittelbar in lokale Solidaritätsstrukturen investieren. In Dörfern und Regionen, wo schon seit Jahren kein Vertreter des Staates mehr gesehen wurde, engagieren sich Menschen für ihre Mitmenschen, etwa in landwirtschaftlichen Zweckverbänden oder in Kreditgenossenschaften. Solche Lebenswelten von unten zu stabilisieren ist mühsam, es erfordert viel mehr organisatorischen Aufwand als Staaten eine bestimmte Summe zu überweisen. Man muss mit den Dorfgemeinschaften zusammenarbeiten, etwas gemeinsam aufbauen, damit es von Dauer ist. Zudem helfen uns die technischen Möglichkeiten dabei. Smartphones etwa sind allgegenwärtig, dank ihnen können humanitäre Organisationen wie das World Food Programme Geld gezielt und unmittelbar an Bedürftige schicken, selbst wenn sie weder eine Geburtsurkunde noch einen Pass bei sich haben.

ZEIT ONLINE: Statt solche Reformen noch offensiver voranzutreiben, plant die Bundesregierung eine Kürzung des Entwicklungsetats um rund 8 Prozent. Untergräbt das nicht mehr als unser Selbstbild, nämlich Kooperationsverpflichtungen?

Frick: Kürzungen sind immer unpopulär. Einigen Politikern erscheint es, als täten sie am wenigsten bei den Geldern weh, die ins Ausland fließen – als gingen uns die Probleme der anderen nichts an. Aber das heißt, den Kopf in den Sand zu stecken, denn wir wissen es ja besser: Die Folgen des Nichtstuns werden auch uns treffen. Der Flüchtlingsexodus aus den Nachbarländern Syriens etwa wurde letztlich auch dadurch ausgelöst, dass uns vom Welternährungsprogramm das Geld ausgegangen war. Ich mache mir große Sorgen, weil sich unsere Aufmerksamkeit auch jetzt wieder allein auf aktuelle Krisenherde wie Gaza und die Ukraine konzentriert. Dabei übersehen wir, dass die Zahl der Hungernden seit fünf Jahren auch infolge der weltwirtschaftlichen Lage zunimmt. In Ländern wie Kenia oder Libanon sinken die Löhne, während die Preise steigen. Immer mehr Familien können sich nicht mal Grundnahrungsmittel kaufen. Diese Verarmung wird je mehr verdrängt, desto mehr sie zunimmt.

Wir leben in Zeiten, die uns einiges Kopfzerbrechen bereiten. Deshalb fragen wir in der Serie „Worüber denken Sie gerade nach?“ führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Stimmen des öffentlichen Lebens, was sie gegenwärtig bedenkenswert finden. Die Fragen stellen Maja Beckers, Andrea Böhm, Christiane Grefe, Nils Markwardt, Peter Neumann, Elisabeth von Thadden, Lars Weisbrod oder Xifan Yang. Heute antwortet der Diplomat Martin Frick.

ZEIT ONLINE: Martin Frick, worüber denken Sie gerade nach?

Frick: Mich beunruhigt die unglaubliche Fragmentierung einer Welt, in der konstruktive Zusammenarbeit immer schwieriger zu werden scheint. Seit 25 Jahren arbeite ich als Diplomat – so extrem war die Belastung des Systems internationaler Regeln noch nie. Heute werden Grundsätze in Frage gestellt, die wir immer für gesetzt gehalten haben. Die internationale Solidarität und Ordnung, auf der sie beruhen, bekommt immer mehr Risse.

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