Deutschland
war eine Baustelle. Ein Land zwischen den Zeiten, unfertig, kaputt, auf der
Suche nach sich selbst. Die Menschen schienen verloren, obwohl oder weil die
Geschichte, so wurde es verkündet, an ihr Ende gekommen war. Die Neunzigerjahre, so war die Verheißung, waren deutsche Einheit und deutsche Euphorie.
Aber
ganz so einfach war es nicht, und es war das besondere Geschichtsgespür von
Wolfgang Becker, der gerade im Alter von 70 Jahren gestorben ist, diese
Widersprüche einer Gesellschaft einzufangen, die das Gestern genauso
beherbergte wie das Morgen – aber das Gestern überwog und das Morgen war
recht ungleich verteilt.
Becker
schaffte es, mit seinem ersten großen Spielfilm, diese Stimmung einzufangen: Das Leben ist eine Baustelle aus dem Jahr 1997 war Beckers Durchbruch als
Regisseur und bleibt bis heute ein Epochenzeugnis für eine verwirrte Zeit, für
verwirrte Menschen, für die Kräfte, die auf Menschen wirken, wenn sich
Geschichte außerhalb der gängigen Sichtweisen auf sie verdichtet – ein Einzeiler als Zeugnis
dieser deutschen Übergangsperiode.
Der
Film erzählt die Geschichte von Jan – und Jürgen Vogel, der diesen Jan spielt,
war nicht nur das ambivalent ratlose Gesicht dieses Films. Er wurde zu
vielleicht dem symptomatischen Schauspieler dieser Epoche, gefangen zwischen
der evidenten Männlichkeit seines Körpers (Muskeln, Tattoos, blonde Haare) und
einer spürbaren Schlaffheit, die übergreifend und generationstypisch war: das
verunsicherte Geschlecht.
Dieser
Jan ist in vielem ein kleiner Bruder von Kurt Cobain, dem Sänger der Band
Nirvana, der sich 1994 das Leben nahm und zuvor einer Generation den Soundtrack
geschenkt hatte, die Verzweiflung, die Wut auf die Verhältnisse. Jan aber, der
allen Grund zur Wut hätte, taumelt eher durch sein Leben, als dass er es selbst
lebt. Es ist eine Baustelle – die Frage ist nur, ob es eine Renovierung ist,
ein Neubau oder ein Abriss.
Das
Berlin, in dem Jan zu Hause ist, stand damals immer noch voller Ruinen – und
auch Jans Leben fällt rapide auseinander. Er versagt beim Sex, er verliert
seine Arbeit, er findet seinen Vater tot und verlassen in der Wohnung, es ist
ein Elend, das Becker mit Humor und Respekt und großem Gespür für die soziale
Realität dieser Zeit inszeniert.
Der
Film, der Christiane Paul als zweites prägendes Gesicht
dieser Zeit neben Vogel etablierte, ist eine Moritat des neuen Deutschlands. Aids
spielt eine Rolle – heute fast vergessen, wie tief in die Neunzigerjahre diese
Krankheit, diese Angst reichte. Ferner Arbeitslosigkeit, Abstiegssorgen – eine
Unterschicht, die Becker mit einem besonderen Talent für das leichtfüßig
Tragikomische zeigte, wie es in Deutschland selten ist.
Das
Leben ist eine Baustelle zeichnete eine zugewandte Skepsis aus gegenüber dem,
was gerade in Deutschland geschah, eine durchaus politische Sensibilität für
die historischen Verwerfungen, ein zartes Geschichtsgefühl, das eher von den
Menschen ausgeht als von der Macht, eher von den kleinen Begebenheiten,
Schicksalen genannt, als von dem, was Staaten, Länder, Nationen durchleben.
Ostalgie vor der Ostalgie
Diese
Genauigkeit im Detail, dieser sehr eigensinnige Blick auf Deutschland, seine
Gegenwart und Geschichte, machte auch Beckers Film Good Bye, Lenin! zu einem
Ereignis: Über dessen erzählerische Qualität hinaus fing Becker eine
Stimmung ein und prägte sie damit, noch bevor die Nostalgiewallungen
der deutschen Selbstromantisierung richtig spürbar waren.
Der
Film wurde auch deshalb ein nationaler und internationaler Erfolg, weil er in
dem scheinbar widerspruchsfreien Einheitsstrudel einen Raum für Zweifel, für
Verwirrung, für Fragen schuf, die politisch heute wieder relevant sind: Was war
die DDR für ein Land, was war das Leben in diesem Land, was ist Erinnerung
wert, als Anker, manchmal bleischwer, manchmal eine Versicherung gegen die
Drift der Gegenwart?
In
unserer Zeit sind es Bücher wie die von Katja Hoyer (Diesseits der Mauer)
oder Dirk Oschmann (Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung) einerseits und
Ilko-Sascha Kowalczuk (Freiheitsschock) oder Steffen Mau (Ungleich vereint)
andererseits, die diesen politisch aufgeladenen Erinnerungsraum vermessen, der
durch die Erfolge von AfD und BSW zu einem realen Problem kommender
Regierungsmacht wurde.
Im
Jahr 2003, als Good Bye, Lenin! in die Kinos kam, war die Zeit noch heiterer
und argloser, so scheint es im Rückblick. Umso erstaunlicher war die
Sicherheit, mit der der Westdeutsche Becker diese so ostdeutsche Geschichte
erzählte: von der Mutter, die das Ende der DDR nicht mehr erlebte, weil sie vor
dem Mauerfall ins Koma fiel, die im Juni 1990 aus dem Koma erwacht und fortan
von ihrem Sohn vor der historischen Erkenntnis verschont wird, weil für sie der
Schock vom Ende der DDR lebensbedrohlich sein würde.
Becker
inszeniert auch diese Tragikomödie mit sanfter Sicherheit, Daniel Brühl ist der
Sohn, der die DDR-Gegenwart als echtes Zitat für seine Mutter inszeniert,
gespielt von Katrin Sass. Es sind die Gurken, die sie liebte, die Sendungen,
die sie sah, die Erinnerungen, die sie prägten. Becker schuf mit diesem
Antiwendefilm ein Wendedokument ganz eigener Art, kontrafaktisch und darum
umso wahrer.
Auch
hier setzte Becker, politisch denkend, einen Film als Gegengewicht eines strahlenden
(und bei Veröffentlichung des Films gerade zu Ende gegangenen) Jahrzehnts, klug, gar nicht zynisch und mit Sinn für das epische Erleben in den
Details des Lebens. 6,5 Millionen Menschen sahen Good Bye, Lenin! allein in
Deutschland, Becker gewann damit den Filmpreis Felix und den César, beides Mal
als „bester europäischer Film“. Es war Ostalgie vor der Ostalgie und weckte
damit das Bewusstsein für etwas, das verloren gegangen war: okkupierte
Erinnerung.
Deutsche Geschichte und soziale Realität
Becker,
der 1994 gemeinsam mit Tom Tykwer, Dani Levy und Stefan Arndt die
einflussreiche Produktionsfirma X Filme gegründet hatte, geriet dann bei seiner
dritten großen Kinoproduktion mit seiner kinematografischen
Menschenfreundlichkeit an seine Grenzen. Die Verfilmung von Daniel Kehlmanns
Roman Ich und Kaminski, bei der wiederum Daniel Brühl die Hauptrolle spielte,
kam 2015 ins Kino und zog nur 120.000 Zuschauer an – erzählt wird die Geschichte
zweier Antihelden, eines arroganten Kunstkritikers und eines tricksenden
Malerfürsten.
Was
hier fehlte, war Beckers eigentliches Material: deutsche Geschichte und soziale
Realität. Beides fand er in dem Roman Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
von Maxim Leo, dessen Verfilmung Becker noch vor seinem Tod abschloss. Der
Stoff hat die kontrafaktische Leichtigkeit, die auch Good Bye, Lenin!
auszeichnete: Ein Videothekenbesitzer, der kurz vor der Pleite steht, wird zum
30. Jubiläum des Mauerfalls von einem Journalisten fälschlicherweise zum Helden
des Widerstands gemacht, weil er 1983 angeblich 127 Passagieren einer S-Bahn
zur Flucht in den Westen verholfen hat.
Das
Ensemble dieses Films wiederum liest sich wie ein Vermächtnis der Neunzigerjahre: Charly Hübner spielt die Titelrolle, Christiane Paul ist wieder dabei,
Daniel Brühl, Jürgen Vogel. Ein Satz aus dem Roman könnte wie ein Motto über
dem schmalen, schönen Werk von Wolfgang Becker stehen: Jeder, heißt es da, „sah, was er sehen wollte, jeder
verstand, was er verstehen wollte. Das Leben war ein Spiel des Erinnerns und
Vergessens.“
Am 12. Dezember ist Wolfgang Becker nach
schwerer Krankheit in Berlin gestorben.