Wohnungslose Jugendliche | Wohnen, lieben, leben – Träume, die pro viele Jugendliche unerreichbar bleiben

Der Berliner Sozialarbeiter Laurent hat an diesem Augustabend frei. Er schlendert durch Kreuzberg, den Stadtteil, in dem er auch arbeitet und wohnungslose Jugendliche unterstützt. Die Straßen sind voll: Tourist*innen, Feiernde, Anwohner*innen, die der Hitze entkommen wollen. Bässe dröhnen, Essensgerüche ziehen durch die Luft.

Als Laurent an einem kleinen Park nahe der U-Bahnlinie 8 vorbeigeht, bemerkt er im Augenwinkel, dass abseits in einem schmalen Graben ein Jugendlicher liegt. Alte Turnschuhe, den Blick starr auf einen Punkt gerichtet. Die Menschen um ihn herum scheinen ihn nicht zu sehen. „Bitte nicht schon wieder“, denkt Laurent.

Er tritt näher. Den Jungen kennt er von seinen Rundgängen. Der Sozialarbeiter beugt sich herunter, prüft: schweres Atmen, unruhige Bewegungen, kaum ansprechbar. Psychose, erkennt er sofort. Er ruft den Rettungswagen. „Er ist noch nicht an dem Punkt, an dem er stirbt“, sagt Laurent ein paar Tage später, als er mit seiner Kollegin Lulu durch den Kiez läuft. Noch habe der Jugendliche Träume, etwa den, eines Tages groß rauszukommen. „Aber wenn das in Berlin so weitergeht, dann wird er sterben.“

Die soziale Lage in der Stadt verschärft sich rapide. Im Januar 2025 lebten laut Behördenangaben mehr als 15.700 wohnungslose Jugendliche in Notunterkünften – drei Jahre zuvor waren es nur 6.200. Die Dunkelziffer dürfte höher liegen. Viele Jugendliche tauchen in keiner Statistik auf, weil sie bei Bekannten unterkommen oder auf der Straße schlafen. „Immer häufiger finden wir Jugendliche an öffentlichen Orten“, sagt Laurent, der mit Lulu für den Verein Gangway arbeitet. Das Elend sei sichtbarer geworden, betonen beide. Sie berichten von Schlafplätzen unter Brücken oder in Betonrohren. Fast ein Drittel der Berliner Wohnungslosen sind inzwischen Jugendliche.

Wer sind diese jungen Menschen? Lulu, im Bezirk Friedrichshain als aufsuchende Straßensozialarbeiterin unterwegs, denkt an Nike, eine 16-Jährige, deren Name hier geändert wurde. Ihre Mutter war alleinerziehend, es gab Gewalt in der Familie. „Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus.“ Als Lulu Nike traf, war sie seit mehr als zwei Jahren ohne Wohnung und trug nur einen Rucksack bei sich. Sie hatte einen Minijob als Putzkraft, verdiente rund 500 Euro.

Für den Berliner Wohnungsmarkt reichte das nicht. Ohne Bürgen, einen Nachweis für Mietschuldenfreiheit oder Geld für eine Kaution hatte sie keine Chance. So endete sie in einer Notunterkunft mit Bettwanzen und Läuse. „Sie hatte auch Angst vor Übergriffen im Schlaf, die Räume sind gemischt.“

Not durch die Kürzungen

Seitdem übernachtet Nike bei Bekannten. Während ihre Kolleg*innen Mittagspause machen, sucht Nike nach einem Schlafplatz für die nächste Nacht. Junge Frauen geraten dadurch oft in gefährliche Abhängigkeiten, sagt Lulu. „Mein Sofa ist frei – und schon ist man ausgeliefert.“ Der Stress der letzten Jahre habe Nike verändert, ergänzt die Sozialarbeiterin. Die Jugendliche sei einsamer geworden. Partnerschaften seien schwierig, wenn man kein festes Zuhause habe. Sie hat eine Essstörung und eine Depression entwickelt, findet aber keinen Termin bei einer Psychologin. „So wie ihr geht es Hunderten.“

Laurent erinnert sich an die 15-Jährige Pixie, deren Name ebenfalls zu ihrem Schutz geändert wurde. Ihre Mutter bekam sie sehr jung und nahm Drogen – ein Muster, das dann auch Pixie übernahm. Als der Sozialarbeiter sie kennenlernte, zog sie gerade in eine betreute Einzelwohnung. „In der ersten Woche war klar, dass sie schwanger ist.“

Nach der Geburt kam sie in eine Einrichtung für Mütter, musste diese aber bald wieder verlassen – wegen Drogen. „Die Ansprüche in vielen Einrichtungen sind sehr hoch – für viele Straßenjugendliche ist das unrealistisch.“ Die Jugendliche verlor nicht nur die Wohnung, sondern auch ihr Baby. Zwei Jahre lang zog sie von Unterkunft zu Unterkunft, versuchte mit Laurents Hilfe einen Entzug, um ihr Kind zurückzubekommen. Irgendwann gab es keine Optionen mehr. „Das Sozialsystem hatte keinen Platz und keine Chancen mehr für sie“, sagt Laurent.

Pixie kehrte zu ihrer „Straßenfamilie“ zurück und lebt wieder am Alexanderplatz. Der Sozialarbeiter ist besorgt. „Die Bedingungen dort sind lebensgefährlich.“ Harte Drogen wie Crack, Fentanyl und Heroin sind im Umlauf. 2024 starben in Berlin 294 Menschen am Konsum illegaler Substanzen – ein neuer Höchststand.

Laurent und Lulu gehen durch eine Seitenstraße in Kreuzberg, wo viele Wohnungslose Zeit verbringen. Auf dem Asphalt liegen unzählige Kanülen. Die Mischung aus Drogen, schwierigen Lebensbedingungen und Hoffnungslosigkeit ende immer häufiger tödlich, berichtet Laurent. „In meinen sechs Arbeitsjahren als Sozialarbeiter sind zehn meiner Klienten verstorben – fünf davon in den letzten Monaten.“ Gangway hat inzwischen eine Arbeitsgruppe „Trauer“, in der Mitarbeiter über die psychische Belastung durch Todesfälle sprechen.

Warum hat sich die Situation so zugespitzt? „Vor allem wegen der Kürzungen“, sagt die Sozialarbeiterin Lulu. Der Berliner Senat spart aktuell drei Milliarden Euro ein. Viele soziale Träger müssen deshalb Angebote streichen. „Auch wir rechnen mit Kürzungen, die unsere Arbeit erschweren“, fügt sie hinzu. Die Stadtverwaltungen seien überlastet. Vergangenes Jahr habe ein Sozialamt wegen Überforderung mehrfach geschlossen, um alte Fälle abzuarbeiten. „Auf offiziellem Wege bekommen wir praktisch keine Leistungen mehr“, sagt Lulu.

Auch erwerbstätige Menschen wenden sich an Wohnungslosenhilfe

Der Bedarf an Unterstützung wächst, die Möglichkeiten zur Hilfe schrumpfen. Ein weiterer Grund ist der völlig überhitzte Wohnungsmarkt. Selbst die Senatsverwaltung für Soziales nennt gegenüber dem Freitag den Mangel an bezahlbarem Wohnraum als Hauptursache für die steigende Zahl Wohnungsloser. Nicht nur Jugendliche haben es dabei schwer, wie Lulu betont – auch Projekte, die sich an diese Jugendlichen richten. „Die Eigentümer wollen keine Wohnungslosen in ihren Räumen und nehmen dann lieber eine teure Galerie.“

Auch Gangway habe lange nach passenden Büroräumen suchen müssen. Die explodierenden Mietkosten führen derweil in ganz Deutschland zu einem gefährlichen Trend: Die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe werden immer häufiger auch von erwerbstätigen Menschen aufgesucht. In einem aktuellen Bericht der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe heißt es, dass gut 13 Prozent der Klient*innen trotz Arbeit auf Unterstützung angewiesen sind.

Das Elend wächst – zugleich soll es aus dem Blickfeld verschwinden. Lulu und Laurent weisen auf die öffentlichen Orte hin, die nachts geschlossen werden, damit dort niemand schlafen kann. Auf das bläuliche Licht unter den Brücken, damit Drogennutzer*innen ihre Venen nicht erkennen. Auf die Bänke in den umliegenden Parks, die so gebaut werden, dass sich niemand hinlegen kann. Auf den harten Umgang von Polizei und Behörden. „Früher haben die Ämter Bescheid gegeben, bevor sie Plätze räumten. Das machen sie heute nicht mehr“, so Laurent.

Die Berliner Regierung wolle das bisher sehr uneinheitliche System der Notunterkünfte grundlegend reformieren, sagte ein Sprecher der Senatsverwaltung Freitag gegenüber. Ein neues Gesetz zur stadtweiten Steuerung werde derzeit vorbereitet, Mindeststandards im Kinder- und Jugendschutz seien mit den Bezirken bereits vereinbart.

Die beiden Sozialarbeiter sitzen in einem Café. Alle paar Minuten schnorrt jemand bei ihnen nach Geld. „Unsere Aufgabe ist es, zwischen den Jugendlichen und dem System einen Bogen zu schlagen“, sagt Lulu. Doch dieses System biete immer seltener Möglichkeiten, um die Jugendlichen aufzunehmen. „Ich will nicht mehr hören, dass ich meinen Job gut mache – wir brauchen Geld“, sagt Lulu.

Laurent betont, dass die Befristung vieler Arbeitsverträge die Bindung mit den Jugendlichen erschwert. „Viele sind Kontaktabbrüche gewöhnt – Vertrauen aufzubauen erfordert, verlässlich da sein zu können.“ Für die Klient*innen im Alltag präsent sein, während man selbst prekär angestellt ist und die Regierung die Mittel kürzt – „diesen Spagat hinzubekommen, ist sehr anstrengend“, sagt Lulu. Die meisten Sozialarbeiter*innen würden nur ein paar Jahre durchhalten, bevor sie kündigen. In Berlin kommt etwa eine Fachkraft auf 800 wohnungslose Jugendliche.

Um sich mehr Spielraum zu verschaffen, bleibt nur Protest. „Wir müssen politisch sein, wohnungslose Jugendliche haben keine Lobby“, sagt Lulu. Sie und Laurent gehen deshalb zu Ausschusssitzung, verfassen Positionspapiere – und nehmen an Demonstrationen gegen die Kürzungspolitik teil. Bei einem Protest im November hatten sich Demonstrant*innen in Schlafsäcken vor die Senatskanzlei auf die Straße gelegt. Organisiert wurde die Aktion von der Landesarmutskonferenz Berlin, ein Zusammenschluss von 35 Initiativen.

Viele können nicht mehr

Auch Lulu fordert mehr mobile Teams für niedrigschwellige soziale Arbeit, ausreichend Möglichkeiten zum betreuten Einzelwohnen und bessere ausgestattete Notunterkünfte, speziell für junge Menschen. Ob das unter dieser Regierung realistisch ist? Der Berliner Senat rechnet bis zum Ende des Jahrzehnts mit einer Steigerung der Wohnungslosen-Zahlen um knapp 60 Prozent – auf mehr als 85.600 Personen.

Erfolg, wissen beide Sozialarbeiter*innen, ist unter diesen Bedingungen selten. Laurent spricht davon, wie viel Einsatz es erforderte, damit nahe des Kottbusser Tors vielleicht ein mobiler Stand von Gangway aufgebaut werden kann – der Antrag muss noch genehmigt werden, wie die Anwohner*innen reagieren sei unklar. „In jedem Fall braucht es viel Aufklärungsarbeit.“

Lulu wiederum hatte vor einiger Zeit eine wohnungslose Jugendliche zum Amt begleitet. Erst nach langem bitten und bangen erklärte man sich dort bereit, der jungen Frau eine kleine Einzimmerwohnung am Stadtrand zu geben. „Das war in fünf Jahren das erste Mal passiert“.

Eine andere Erinnerung: Gangway ermöglicht manchmal Kurzreisen, um mit den Jugendlichen eine vertrauliche Bindung aufzubauen. Lulu war dafür mit einer Klientin an die Ostsee gefahren. Die junge Frau hatte noch nie das Meer gesehen, und noch nie in einer Ferienwohnung ein Zimmer für sich gehabt. „Auf dem Rückweg hatte sie im Auto nur geweint – sie wollte nicht zurück“, sagt Lulu. Die Träume der Jugendlichen seien nichts Besonderes, betont die Sozialarbeiterin. „Wohnraum, Ausbildung, sich verlieben, Kinder kriegen, Geld, um mal nett zu essen.“ Alltägliches, das unerreichbar scheint.

Am Ende des Rundgangs stehen die Sozialarbeiter*innen in einem kleinen Park in Kreuzberg. Zwischen Drogenüberresten auf dem Boden und klaffenden Hunden sprechen sie über Perspektiven – und über eine Stadt, die Verantwortung übernehmen müsste. „Viele der Jugendlichen sind müde von diesem Leben und können nicht mehr“, sagt Laurent. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass es noch mehr Tote geben wird.“

AlexanderplatzAngeboteArbeitAusbildungBehördenBerlinDemonstrationenDepressionDeutschlandDreiDrogenEndeEssenEuroFentanylFrauenFreiFreitagGeldGewaltHeroinHörenJobJugendlicheJugendschutzJungKindKinderKonsumKreuzbergLangLangeLaurentlebenLuftMANNeuerNikeNotOstseeParksPartnerschaftenPersonenPolizeiProtestRegierungSchlafschlagenSelbstSenatSozialarbeiterSozialsystemStatistikStressSuchtTauchenToteTrauerVertrauenWeilWillWissenWohnungWohnungsmarktZeit
Comments (0)
Add Comment