„Wörter statt Möbel“ von Aglaja Veteranyi: Lest sie, und zwar laut!

Aglaja Veteranyi wird 1962 in Bukarest in eine Zirkusfamilie geboren, der Vater ist Clown, die Mutter Akrobatin. 1967 flieht die Familie aus Rumänien, die kleine Aglaja tourt als Artistenkind durch Europa, Afrika und Südamerika, lebt im Wohnwagen, tritt in Varietés auf. Das Mädchen spricht Rumänisch und Spanisch, aber lesen und schreiben kann es nicht. 1977 lässt sich die Familie in der Schweiz nieder, Aglaja bringt sich selbst Deutsch bei, Wort für Wort, Satz für Satz, absolviert schließlich eine Schauspielschule in Zürich. Was für eine Leistung!

Die Bühne bleibt ihr ein Zuhause. Sie schreibt Texte, spielt ihre Rollen selbst, gründet mit ihrem Lebensgefährten Jens Nielsen eine Performancegruppe, unterrichtet. Schreibt und schreibt. 1999 veröffentlicht sie mit dem Roman Warum das Kind in der Polenta kocht die Geschichte ihrer Kindheit, nimmt damit am Ingeborg-Bachmann-Preis teil, wird bekannt und erfolgreich. Der Ruhm erleichtert ihr das Dasein allerdings nicht nur, vieles verdunkelt sich. Im Februar 2002 beendet sie ihr Leben im Zürichsee.

Ein kurzes und bewegtes Leben also. Und so sind auch die meisten ihrer Texte: kurz und bewegt. Zwei, drei Sätze, und es tut sich eine Welt vor einem auf, die man nicht mehr vergisst. Wie gut, dass 2018 mit Wörter statt Möbel posthum eine Sammlung dieser Texte erschienen ist. Es lohnt sich, die Kürzestgeschichten, Gedichte, Minidramen, Sprüche und Tipps laut zu lesen.

Der Engel lag in der Badewanne und fror. Morgen bin ich tot. / Morgen bin ich tot. / Morgen bin ich tot. / Morgen bin ich tot – dachte er leise. / Vor der Tür standen die anderen Engel und warteten freundlich.

Veteranyi war Meisterin darin, einer Geschichte mit einem einzigen Wort eine andere Atmosphäre einzuhauchen. Hätten die Engel nicht freundlich gewartet, alles wäre anders. Sie schuf starke Bilder, die sich vor einem auftun, bis man merkt, dass daran etwas seltsam ist. Man fühlt, bevor man denkt.

Reisetipp

Im Paradies verwandeln sich die Körper in Steine. Daraus werden schöne Bauwerke errichtet, für die Durchreisenden.

Der Tod, der Abgrund, das Ausgeliefertsein des Kindes, die Einsamkeit und die Liebe: Mit Witz, Schärfe und unendlich viel Zuneigung für die Sprache, die sie so mühevoll hatte erlernen müssen, arbeitet sich Veteranyi am Dasein ab. Die Texte strotzen vor Ideenreichtum und laden dazu ein, sie unter Freunden zu rezitieren und darüber zu sinnieren, zu lachen, sich zu wundern. Fast möchte man sagen, sie funktionieren wie Sitzungen in der Psychoanalyse: Sie geben einen Impuls, über sich nachzudenken. Sezierend hat Aglaja Veteranyi die Umgebung beobachtet, sie, die zwei komplett verschiedene Gesellschaftssysteme erlebt hat und eine Reisende in vielerlei Hinsicht war.

In einer Luftseilbahn standen sich einmal zwei Herren mit Zylinder gegenüber. Auf die Frage, ob es heute schneien würde, begannen sie aufeinander einzuschlagen. Es kam ein heftiger Schneesturm auf, und einer der Herren wurde aus der Kabine herausgeschleudert.

Das Berghaus „Zur frohen Aussicht“ war besonders wegen des Essens ein beliebter Ausflugsort.

Auch der vierzig Seiten lange Monolog, der das Buch abschließt, besteht aus Splittern, geschrieben in der Sprache eines Menschen, der (noch) nicht gut Deutsch kann. Gerade deswegen sind sie voller wilder Kraft. Der kürzeste Text im Buch ist übrigens der titelgebende, der verstanden werden kann als ein horizonterweiternder Hinweis für das eigene Leben:

Wörter statt Möbel.

Aglaja Veteranyi: Wörter statt Möbel. Edition spoken script 28; Der gesunde Menschenversand, Luzern 2018; 160 S., 25,– Fr., 21,– €

Korrekturhinweis: In einer früheren Fassung schrieben wir, Veteranyi sei in Budapest geboren. Richtig ist Bukarest. 

Aglaja Veteranyi wird 1962 in Bukarest in eine Zirkusfamilie geboren, der Vater ist Clown, die Mutter Akrobatin. 1967 flieht die Familie aus Rumänien, die kleine Aglaja tourt als Artistenkind durch Europa, Afrika und Südamerika, lebt im Wohnwagen, tritt in Varietés auf. Das Mädchen spricht Rumänisch und Spanisch, aber lesen und schreiben kann es nicht. 1977 lässt sich die Familie in der Schweiz nieder, Aglaja bringt sich selbst Deutsch bei, Wort für Wort, Satz für Satz, absolviert schließlich eine Schauspielschule in Zürich. Was für eine Leistung!

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