Wo die AfD stärkste Partei ist: Was die blauen Karten zeigen, und welches nicht

Der Osten ist blau. So wirken die Wahlkarten nach den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen auf uns: Zwar wurde in Sachsen die CDU noch einmal stärkste Kraft, aber 2019 war die sächsische Wahlkarte noch schwarz mit blauen Flecken, und jetzt ist sie blau mit schwarzen Flecken. Ganze Regionen sind seit Jahren blau – an die AfD verloren.

Wir starren auf die blauen Flächen, und wir stellen uns dahinter ein blaues Leben vor: Städte, in denen nur Weiße draußen auf der Straße sind, weil alle Menschen mit dunklerer Haut oder mit Migrationshintergrund sich vor Übergriffen fürchten; Dörfer, in denen Familienfeste mit schwarz-rot-goldenen Fahnen und dem VIP-Gast Björn Höcke gefeiert werden; ganze Landstriche, in deren Wohnzimmern von Massendeportation schwadroniert wird; Straßen, auf denen queere Menschen lieber nicht Händchen halten und Schulen, in denen Lehrerinnen, die über Homosexualität sprechen, auf dem Elternabend mit Konsequenzen gedroht wird. Wir stellen uns Welten vor, in denen die AfD das Sagen hat. Diese blauen Karten sehen aus wie No-Go-Areas. Wie der Beginn des Faschismus.

So ist es aber nicht. Das Leben ist kein Parlament, das Leben ist keine Wahlkarte. Es gibt das, was die blauen Karten zeigen, und es gibt das, was die blauen Karten nicht zeigen.

Bautzen, Meißen, Erzgebirge: Hier wird die AfD mehrheitsfähig

Was die blauen Karten zeigen: In vielen Wahlkreisen in Thüringen und Sachsen hat die AfD zwar keine Mehrheit erhalten, aber unter allen Parteien die meisten Stimmen. In manchen sächsischen Wahlkreisen hat die AfD nicht nur Direktmandate gewonnen, sondern hat dabei teils fast 50 Prozent bekommen – sie wird mehrheitsfähig: In Bautzen 1 erhielt die AfD 49,1 Prozent der Erststimmen, in Meißen 47,5 Prozent, in Erzgebirge 46,5 Prozent. Die Stadt Görlitz ist der Republik inzwischen als blaue Stadt bekannt, hier wurde 2019 erstmals ein AfD-Politiker beinahe Oberbürgermeister, und hier erhielt die AfD bei der Europawahl einen Spitzenwert von 40,1 Prozent. Auch bei der Landtagswahl erhielt die AfD in den Görlitzer Wahlkreisen um die 40 Prozent.

Dieses Görlitz eignet sich gut als Beispiel dafür, wie viel mehr hinter den blauen Flächen passiert, als eine blaue Fläche erklären kann.

Was die blauen Karten zeigen: In Görlitz hat sich eine rechtsextreme AfD als Volkspartei etabliert.

Was die blauen Karten nicht zeigen: In Görlitz wird gekämpft.

Görlitz: Nach dem Kampf gegen den Wegzug folgt der Kampf gegen die AfD

1990 lebten in Görlitz 72.237 Menschen, 15 Jahre später waren es noch 57.629. Allein im Jahr 1990 sind aus Görlitz 2.500 Menschen auf einmal fortgegangen. Die Stadt und der Landkreis Görlitz haben nach der Wende über ein Drittel ihrer Bevölkerung eingebüßt.

Was die Karten nicht zeigen: Das sind nicht einfach Zahlen, die fortgezogen sind. Das sind Kinder, die in Westdeutschland oder den großen Städten Leipzig und Dresden eine Arbeit gefunden haben. Das sind Enkel, die weit weg von ihren Görlitzer Großeltern aufwachsen. Die Karten zeigen: Im Landkreis Görlitz ist jeder Zehnte Einwohner älter als 80 Jahre.

Görlitz ist aber keine Karte, sondern eine Stadt, und hier lebt eine Gesellschaft. Hier leben Zigtausende Menschen, im Landkreis Görlitz Hunderttausende jeden Tag ihren Alltag, und sie ringen jeden Tag um dieses gemeinsame Zusammenleben. Die Gesellschaft in Sachsen ringt, sie kämpft, sie streitet, sie lebt. Wer nach Görlitz fährt, sieht, dass der Bahnhof, dass die Straßen, dass die Häuser nicht blau sind. Sieht den Bioladen am Bahnhof, sieht den Dönerladen vor dem Bahnhof. Sieht die Menschen aus Görlitz, aus Berlin, aus Kiew, aus Warschau, aus Damaskus und Asmara, die die Plätze von Görlitz füllen. Sieht das junge queere Pärchen, das Händchen hält – und wieder loslässt, verunsichert. Sieht die Altstadtkneipe, die manche Wahlfeier der AfD beherbergt, und das Café, das 200 Meter davon entfernt manch grüne Wahlparty beherbergt.

62 Prozent haben gegen die AfD gewählt

Zoomen wir noch tiefer hinein. Wer auf die tief blaue Karte der Stadt Görlitz schaut, der sieht: 37,9 Prozent der Wählenden haben für die AfD gestimmt. Der sieht aber nicht: 62 Prozent der Wählenden haben für die CDU, das BSW, die SPD, die Linke und die Grünen gestimmt, also gegen die AfD.

Was die blaue Karte nicht zeigt: Seit Jahren kämpfen so viele junge Menschen in Görlitz dafür, dass sie offen bleibt. Sie gründen vegane Cafés, sie gründen Treffpunkte für Geflüchtete, sie gründen Kulturprojekte, organisieren Konzerte und Ausstellungen, gründen deutsch-polnische Initiativen. Jedes Jahr findet in Görlitz ein großes Filmfestival statt, zusammen mit Zgorzelec; und an der Görlitzer Hochschule finden sich Studierende der Kulturwissenschaften aus ganz Europa zusammen. 5.000 polnische Menschen leben in Görlitz, 1500 ukrainische Geflüchtete. Wer nur blau sieht, sieht das bunt nicht.

Michael Kretschmer gewinnt den Wahlkreis gegen die AfD

Was die blauen Karten zeigen: In Görlitz erhielt der AfD-Kandidat Sebastian Wippel 2019 knapp 45 Prozent bei den Bürgermeisterwahlen.

Was die blauen Karten nicht zeigen: Im Wahlkreis Görlitz 2 setzte sich bei diesen Landtagswahlen Ministerpräsident Michael Kretschmer von der CDU mit 47,2 Prozent der Stimmen gegen Sebastian Wippel von der AfD durch. Wippel erhielt 39,4 Prozent.

Was die blauen Karten nicht zeigen: Überall in Sachsen und Thüringen fassen sich Frauen und Männer ein Herz und kandidieren für die Stadträte und Kreisräte und Landtage, um der AfD etwas entgegenzusetzen. Die Grüne Franziska Schubert, die seit Jahren in Görlitz für Demokratie kämpft, holte 2019 als grüne Kandidatin für das Amt der Oberbürgermeisterin ganze 28 Prozent. Nun rang sie mit ihrer Partei darum, erneut in den Landtag einzuziehen – und schaffte es mit 5,1 Prozent in Sachsen vermutlich gerade so. In Sachsen wird gekämpft, an jedem Tag.

Ein Florist macht sich auf in den Kampf gegen blau – und verliert

Gekämpft wird nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land um Görlitz herum. Hinter den Karten spielte sich in den vergangenen Monaten einiges ab. Die Fläche von Zittau etwa ist blau, weil der Florist Thomas Krusekopf seinen Kampf verloren hat.

In Zittau taten sich während der Coronakrise frustrierte Handwerker zusammen, um dann gegen die steigenden Energiepreise und gegen die Politik der Ampelregierung in Berlin zu protestieren. Dass viele der verzweifelten Kollegen blau wählen, hörte man unter den Zittauer Handwerkern im vergangenen Jahr, sei nur eine Frage der Zeit. Der Hirschfelder Florist Thomas Krusekopf sorgte sich um die zunehmende Begeisterung frustrierter Handwerker für die AfD und trat 2024 kurzerhand selbst für den Landtag an, auf der Liste der CDU.

Was die blaue Karte zeigt: Die Befürchtungen des Thomas Krusekopf haben sich bestätigt. 2024 ist Görlitz 4 nicht mehr schwarz, sondern blau. Hajo Exner von der AfD erhielt 38,4 Prozent, Thomas Krusekopf nur 34,9 Prozent.

Was die blaue Karte nicht zeigt: Monatelang Wahlkampf und den Handel mit Blumen und Pflanzen koordinieren. Eine Familie, die einen wahlkämpfenden Handwerker unterstützt, also selbst doppelt so viel arbeitet wie sonst. Zittauer Handwerker, die weiter versuchen, ihre Kollegen davon zu überzeugen, dass die AfD nicht die Lösung ist.

Die Karten zeigen uns nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit

Was die Karten von Görlitz zeigen: Eine Stadt, die durch ihre vielen Kämpfe wieder auf 57.000 Einwohner gewachsen ist. Was die Karten von Görlitz aber auch zeigen: Ein auf 250.000 Menschen zusammengeschrumpfter Landkreis, der Prognosen zufolge doppelt so schnell schrumpfen wird wie der Rest Sachsens. Was die Karten nicht zeigen: Einen Floristen, der kämpft.

Was die blauen Karten zeigen: eine reale politische Gefahr.

Was die blauen Karten nicht zeigen: Die Chance, in den kommenden fünf Jahren etwas anders zu machen. Anders miteinander zu reden. Anders über die Zukunft zu sprechen. Anders miteinander zu leben.

Was die blauen Karten zeigen: 34 Jahre bundesdeutsche Politik, die Gesellschaft zerstört hat.

Was die blauen Karten nicht zeigen: Die Gesellschaft der kommenden 34 Jahre.

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