Wissenschaft und Moral: Verbleibend „Irrtumskosten“

Der Mainzer Philosoph Tim Henning verteidigt in seinem Buch Wissenschaftsfreiheit und Moral zunächst die Wissenschaft gegen allzu simple moralistische Verurteilungen – um dann eine Argumentation zu entwickeln, die es dennoch ermöglicht, auf den wichtigsten Feldern der heutigen moralischen Debatte – etwa der Gleichberechtigung von Minderheiten und der Akzeptanz von Geschlechtervielfalt – die moralische Verurteilung gewisser wissenschaftlicher Thesen zu ermöglichen: durch eine Synchronisation von moralischen Argumenten mit solchen, die Henning wissenschaftlich nennt.

Henning meint, es gäbe „Kriterien der Wissenschaft, die in den Bereich der Moral hineinreichen. Es gibt einen Faktor, nämlich praktische Irrtumskosten, der in beide Hoheitsgebiete zugleich fällt.“ Das soll heißen: Wenn die Akzeptanz einer falschen wissenschaftlichen These zu hohen Kosten für betroffene Personen führt, dann ist es sowohl aus wissenschaftlichen als auch aus moralischen Gründen abzulehnen, dass diese These überhaupt vertreten und verfolgt wird.

Man könnte diese zentrale These des Buchs einmal auf sich selbst anwenden und argumentieren, dass ihre Irrtumskosten so hoch sind, dass sie gar nicht publiziert werden sollte. Aber es gibt eine Reihe von anderen Problemen, die Hennings Fazit fragwürdig machen. Das beginnt schon damit, dass er die Wissenschaftsfreiheit im Wesentlichen auf den Begriff der Autonomie der Wissenschaft reduziert. Für Henning handelt es sich sozusagen nicht um eine individuelle, sondern um eine institutionelle Freiheit: Die Normen, die sich die wissenschaftliche Gemeinschaft gibt, begrenzen und bestimmen die Freiheit der einzelnen Person. Das mag faktisch so sein, ist aber eben schon immer eine Einschränkung, gegen die sich die einzelne Wissenschaftlerin mit Verweis auf ihre Freiheit wehren kann.

Zudem ist das, was Henning als Kriterium für die wissenschaftliche Beurteilung von Thesen ansieht, nämlich „hinreichende Belege für ihre Wahrheit“ zu haben, praktisch in keiner Wissenschaft tatsächlich eine Voraussetzung dafür, dass eine These verfolgt werden kann. Die meisten Thesen sind zunächst kühne Vermutungen. Keine hinreichenden Belege zu haben ist natürlich im Streit unter den Forschenden ein gern genutztes Argument – aber es darf, wenn es Fortschritt und Innovation geben soll, gerade nicht zur Einschränkung von Forschungsmöglichkeiten führen – diese sollen ja die Belege erst liefern. Im Falle von soziologischen oder ökonomischen Thesen sind zudem empirische Belege meistens schwach und angreifbar – Kriterien wie die Plausibilität von Modellen und die Erklärungskraft von Hypothesen sind deshalb unverzichtbar.

Hennings wichtigstes Beispiel ist die These, „Schwarze Menschen haben genetisch bedingt durchschnittlich einen geringeren IQ“. Zwei weitere Thesen drehen sich um den Begriff der Frau und die Daseinsberechtigung von schwerbehinderten Neugeborenen. Wenig überraschend führt seine Argumentation dazu, alle drei Thesen zurückzuweisen, und zwar eben aus Gründen, in denen Moral und Wissenschaftlichkeit, wie Henning sie versteht, zusammenfallen. Und Zurückweisen bedeutet eben: denen, die sie vertreten, Forschungs- und Publikationsmöglichkeiten zu entziehen, ihre Möglichkeiten, ihre Thesen innerhalb der Wissenschaft zu verteidigen, einzuschränken.

Problematisch ist daran natürlich, dass „Irrtumskosten“ überhaupt kein wissenschaftliches Argument sind – es kann überhaupt nur dazu werden, weil, was Hennings selbstverständliche Verwendung dieses Konzepts zeigt, die Ökonomisierung sowohl der Moral als auch der Wissenschaft, ihre Beurteilung nach Kosten und Nutzen, bereits ganz selbstverständlich das Primat in der gesellschaftlichen Bewertung von Wissenschaft bekommen hat. Natürlich können erwartbare Kosten und erhoffter Nutzen in dieser Welt entscheidende Kriterien für Forschungsmöglichkeiten sein – aber das sind dann eben keine wissenschaftlichen Argumente, wie Henning glauben macht, sondern politische und ökonomische. Sie sind immer Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit, mit und ohne moralische Begründung.

Noch wichtiger aber: Aus den Thesen selbst folgen überhaupt keine Irrtumskosten. Henning verdeckt das, indem er immer wieder wissenschaftliche Aussagen mit öffentlichen politischen Aussagen von Wissenschaftlern sowie mit Äußerungen von Publizisten, die sich auf zweifelhafte Weise auf bestimmte Thesen stützen zu dürfen meinen, vermischt. So zitiert er etwa Thilo Sarrazin immer wieder so, als ob dieser in der Wissenschaft eine wissenschaftliche These vertreten würde.

Aus einer wissenschaftlichen These von biologischen Gründen für statistische Unterschiede beim IQ wird überhaupt nur eine Diskriminierung, wenn man annimmt, dass der IQ tatsächlich ein Maß für die Intelligenz sei – eine Annahme, die in der Intelligenzforschung längst fragwürdig ist. Zudem folgt aus ihr keineswegs eine zwingende Benachteiligung – im Gegenteil. Ihre Annahme kann, wie bei körperlichen Benachteiligungen, auch zur Schaffung von Förderungen führen.

Hennings Argumentation steht also auf schwachen Füßen, ihre Konsequenzen für Betroffene sind groß. Gleichwohl soll er sie publizieren und verteidigen, sollten wir sie offen diskutieren. Denn das ist der einzige sinnvolle Weg, ihre Fehlerhaftigkeit letztlich fruchtbar zu machen.

Wissenschaft und Moral Tim Henning Suhrkamp 2024, 319 S., 30 €

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