Wirtschaftszahlen zu den Landtagswahlen: Ist wirklich die Gesamtheit so schlimm?

Große Teile der Bevölkerung in Thüringen und Sachsen sind frustriert, in den Umfragen vor den Landtagswahlen liegen Protestparteien vorn. Ein bestimmendes Thema: die wirtschaftliche Situation. Doch wie steht es um die regionale Wirtschaft wirklich? Hier sind die wichtigsten Zahlen. 

Mehr Frauen im Arbeitsmarkt

Was für eine Entwicklung. Vor 20 Jahren
erreichte die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland einen Höchststand von 20,6
Prozent, heute liegt sie bei 7,8 Prozent – und hat sich damit mehr als
halbiert. Auf dem gleichen Niveau sind West- und Ostdeutschland damit noch nicht. Zwei Prozentpunkte mehr sind es in Ost.  

Wichtig
dabei: Die Arbeitslosenquote ist nicht etwa gesunken, weil Angestellte in Frührente oder Arbeitslose in Arbeitsmarktprogramme gingen. Sondern weil mehr
Menschen Arbeit fanden, sich also die Beschäftigungsquote erhöht hat. „Das ist
Ausweis dafür, dass es sich um eine echte positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt
handelt“, sagt Eric Thode, Experte für Arbeitsmarkt und Beschäftigung bei der
Bertelsmann Stiftung.  

In
einer Hinsicht steht der Osten besonders gut da. „Es gibt mehr
Gleichberechtigung auf dem Arbeitsmarkt“, sagt Thode, und zwar vor allem in
höheren Ausbildungsniveaus, also unter Studierten und Meisterinnen oder Frauen mit Techniker-Ausbildung.  


67


Prozent


der erwärbstätigen Frauen in Ostdeutschland arbeiten in Vollzeit – im Westen nur 52 Prozent

Ein
Grund dafür ist die Kinderbetreuung. Im Osten steht für jedes zweite Kind unter
drei Jahren ein Betreuungsplatz zur Verfügung, im Westen nur für jedes dritte
Kind. Auch der Gender Pay Gap – also die Lohnlücke zwischen den Geschlechtern –
ist in Ostdeutschland geringer als im Westen: 7 zu 19 Prozent Unterschied. In
der Altersgruppe der 20- bis 24-Jährigen verdienen ostdeutsche Frauen sogar
mehr als Männer. 

Nach oben

Link kopieren

Der Osten treibt das Wirtschaftswachstum

Der Wirtschaft in ganz Deutschland fehlt es
momentan an Schwung. Am Osten aber liegt das nicht – im Gegenteil. Die
ostdeutschen Bundesländer haben sogar dafür gesorgt, dass die Bilanz nicht noch
düsterer ausfällt. Dem ifo Institut zufolge wird die ostdeutsche Wirtschaft in
diesem Jahr um 1,1 Prozent wachsen – bundesweit sollen es nur 0,4 Prozent werden.
Und 2025 gibt es den Prognosen zufolge im Osten ein Wachstum von 1,7 Prozent,
in ganz Deutschland sind es hingegen 1,5 Prozent.  


1,1


Prozent


wächst die Wirtschaft im Osten 2024 – in ganz Deutschland sind es nur 0,4 Prozent

Der Ökonom Joachim Ragnitz vom ifo Institut
erklärt das damit, dass die Wirtschaft im Osten weniger von Exporten und
Industrieproduktion abhängig ist als der Westen. Die weltweit geringere
Nachfrage hatte zuletzt die allgemeine Konjunktur geschwächt, was vor allem den
Westen mit seinen Industriebetrieben getroffen hat. Außerdem habe es zwei
Sondereffekte gegeben. Brandenburg profitiere vom E-Autohersteller Tesla, der
in Grünheide eine Werkserweiterung plant. Und Mecklenburg-Vorpommern profitiere von den neu
errichteten Flüssiggas-Terminals an der Ostseeküste. Zudem sei die Kaufkraft
gestiegen: Der im vergangenen Jahr kräftig angehobene Mindestlohn hat auf die
Nachfrage im Osten eine größere Auswirkung, da es Osten mehr Menschen gibt, die
auf Mindestlohnniveau arbeiten. Zum anderen sind die Renten im Osten zuletzt
deutlich stärker gestiegen als im Westen. Weil es prozentual im Osten mehr
Rentner gibt als im Westen, fällt auch das mehr ins Gewicht. 

Trotzdem ist die Kaufkraft im Osten noch immer
geringer als im Westen, was Ragnitz zufolge an niedrigeren Löhnen liegt, vor allem
aber an den niedrigeren Vermögenseinkommen.  

Nach oben

Link kopieren

Weniger Insolvenzen

Die Aufträge gehen zurück, das
Geschäftsmodell ist ein Flop, die Konjunktur kommt nicht in Gang. Für manche
Unternehmen bedeutet das: Insolvenz. Je nachdem wie viele
Insolvenzen angemeldet werden, sagt dies also etwas darüber aus, wie gut Unternehmen
auf Krisen reagieren können. 


15


Prozentpunkte


geringer ist der Anstieg der Insolvenzen im laufenden Jahr im Vergleich zum Westen

Das
Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) hat sich diese
Entwicklung im regionalen Vergleichen angesehen. ZEIT ONLINE liegen die Zahlen
exklusiv vor. Dabei fällt auf: Gemessen am Durchschnitt zwischen 2016 und 2019
meldeten in den Folgejahren ostdeutsche Unternehmen tendenziell weniger häufig
Insolvenz an als Unternehmen in Westdeutschland.

Das könnte an einer geringeren Exportquote ostdeutscher Unternehmen liegen. „Sinkt die ausländische Nachfrage nach typischen deutschen Exportartikeln, spürt das die exportorientierte westdeutsche Wirtschaft stärker“, sagt Steffen Müller, der beim IWH für den Insolvenztrend zuständig ist. Auch die Pandemie hat westdeutschen Unternehmen mehr geschadet und Nachholeffekte aus der Pandemie könnten somit den stärkeren Zuwachs bei den Insolvenzen im Westen erklären, schlussfolgert Müller.

Nach oben

Link kopieren

Chips aus dem Osten

Zum Spatenstich der neuen TSMC-Chipfabrik in
Dresden Mitte August nahmen Bundeskanzler Olaf Scholz und
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beide die Schippe in die Hand.
Der taiwanesische Chiphersteller investiert zehn Milliarden Euro in eine neue
Fabrik – fünf Milliarden Euro kommen vom deutschen Staat. Sachsen verspricht
sich viel von der Investition: Das Silicon Saxony, wie es in Anspielung auf das
innovative Silicon Valley in den USA heißt, ist Europas größter
Mikroelektronik-Standort.  


15


Milliarden Euro


Subventionen fließen an den Osten allein für die Neuansiedlung von Intel und TSMC

Neben TSMC gab es zuletzt noch weitere
Investitionen von überregionaler Bedeutung. Der US-Chiphersteller Intel etwa
investiert in Magdeburg 30 Milliarden Euro in ein neues Werk, einschließlich
staatlicher Subventionen von knapp zehn Milliarden Euro.  

„Großansiedlungen haben für die Standorte einen
positiven Effekt“, sagt Ragnitz. Sie profitierten von einer höheren
Wertschöpfung, es würden Arbeitsplätze geschaffen, mehr Menschen zögen in die
Region. Aber die Effekte für das ganze Land seien bescheiden. „Da geht es dann
womöglich um ein paar Zulieferer, die sich ansiedeln“, sagt Ragnitz – eine
große Veränderung für den Osten insgesamt bringe dies jedoch nicht.  

Nach oben

Link kopieren

Ausländer rein!

Es fehlt an Arbeiterinnen und Arbeitern im
Tiefbau, Hochbau, an Elektroinstallateurinnen, Pflegern, medizinischen
Fachangestellten. Überall in Deutschland ist das so.  

Wegen der ökologischen Transformation der
Industrie werden heute andere Berufe gebraucht als noch vor 20 oder 30 Jahren.
Gefragt ist eher der studierte Elektroingenieur als der angelernte Kohlekumpel.
Aber auf dem Arbeitsmarkt macht sich auch die Tatsache bemerkbar, dass die
Bevölkerung älter wird. Geburtenstarke Jahrgänge gehen in Rente, die
Geburtenquote sinkt. Das führt dazu, dass die Zahl der Beschäftigten
zurückgeht. 

In Ostdeutschland ist dieser Rückgang besonders
stark. Die Beschäftigten sind im Schnitt älter als im Westen. „Es scheiden mehr
Menschen aus dem Arbeitsleben aus, als eintreten“, sagt Fabian Semsarha,
Referent für Fachkräftesicherung am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln
(IW). So ist zum Beispiel in Sachsen die Zahl der Arbeitnehmer mit deutscher
Staatsangehörigkeit von 2022 auf 2023 um rund 7.500 gesunken. 


58,8


Prozent


der vergangenes Jahr nach Sachsen eingewanderten Beschäftigten stammen aus Staaten außerhalb der EU (Drittstaaten)

Trotzdem ist die Zahl der Beschäftigten insgesamt
gestiegen – und zwar wegen der Zuwanderung. Den 7.500 weniger Beschäftigten
standen im gleichen Zeitraum 14.800 Menschen gegenüber, die aus dem Ausland
nach Sachsen gekommen sind. Sie konnten den Rückgang bei deutschen
Beschäftigten damit mehr als ausgleichen. Ein ähnliches Bild zeigt sich in
allen anderen ostdeutschen Bundesländern. „Wir brauchen Zuwanderer auf dem
Arbeitsmarkt“, sagt Semsarha. „Das Beschäftigungswachstum wird von Ausländern
getragen – sie halten die Wirtschaft am Laufen.“ 

Nach oben

Link kopieren

Viel Geld aus Brüssel

Die ostdeutschen Bundesländer profitieren
besonders von Finanzhilfen der EU und des Bundes. Nach der Wende investierte
der Staat gezielt in Schulen und Infrastruktur, um die Lebensverhältnisse in
Ost und West anzugleichen. Auch heute sind die Finanzhilfen an die
regionale Entwicklung gebunden – und da schneidet Ostdeutschland noch
schlechter ab. Die Europäische Union klassifiziert fast alle ostdeutschen
Regionen als transition regions – also Regionen, in denen das
pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt zwischen 75 und 100 Prozent des EU-Durchschnitts
entspricht. Damit stehen diesen Regionen besondere Finanzhilfen zur Verfügung. 


6


Milliarden Euro


EU-Finanzhilfen erhalten Sachsen und Thüringen zwischen 2021 und 2027

Noch immer fließt in den Osten Geld aus
sämtlichen Fördertöpfen, vom Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) über den
Sozialfonds (ESF), bis hin zu einem Fonds für den gerechten Übergang von
fossilen Energien in Erneuerbare (JTF). Für Sachsen etwa summieren sich die
EU-Hilfen in der aktuellen Förderperiode auf 3,92 Milliarden Euro. Zum
Vergleich: Nordrhein-Westfalen bekommt im gleichen Zeitraum nur 3,6 Milliarden
Euro, trotz der fast fünffachen Einwohnerzahl. 

Zusätzlich gibt es viel Geld vom Bund für die
Braunkohleregionen Lausitz und das Mitteldeutsche Revier. Mit 40
Milliarden Euro bis 2038
sollen die Folgen des Kohleausstiegs abgemildert
werden. Von den darin enthaltenen 26 Milliarden Euro an Strukturhilfen des
Bundes fließen 43 Prozent in das Lausitzer Revier (Brandenburg und Sachsen), 37
Prozent in das Rheinische Revier (NRW) und 20 Prozent in das Mitteldeutsche
Revier (Sachsen-Anhalt und Sachsen).

Nach oben

Link kopieren

Trotzdem Pessimismus – warum?

Die Lebensverhältnisse in Ost und West sind knapp 35 Jahre nach der Wiedervereinigung in vielen Bereichen nicht auf dem gleichen Niveau angelangt. Es gibt noch einen großen Abstand – etwa bei der Produktivität, bei den Löhnen oder auch bei der Wirtschaftsleistung gemessen pro Kopf. Allerdings muss man beachten: Meist werden für Ost-West-Vergleiche Durchschnittswerte herangezogen, die die regionalen Unterschiede missachten. Das gilt auch für den Westen, wo die Wirtschaftskraft stark geprägt ist von Bayern, Baden-Württemberg und Hessen. Auch im Westen gibt es Länder wie Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein, die unter dem gesamtdeutschen Durchschnitt liegen. Vergleicht man diese strukturschwachen westdeutschen Länder mit dem Osten, ist der Abstand gar nicht mehr so groß.

Wie sehr Wahrnehmung und tatsächliche Lage auseinanderklaffen, komme auch im aktuellen Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung zum Ausdruck, sagt Ragnitz. An vielen Stellen werde deutlich, dass Menschen die Lage vor Ort oft schlechter einschätzten, als sie tatsächlich sei. Beispiel Kinderbetreuung: Im Osten ist die Versorgung mit Kitaplätzen nahezu flächendeckend gut. Trotzdem ist die Unzufriedenheit hoch. In Bayern hingegen fehlen in vielen Regionen Kitaplätze, trotzdem zeigten die Menschen sich zufrieden mit der Lage.

„Viele Menschen überschätzen den Abstand zwischen West und Ost“, sagt der Ökonom Ragnitz, was auch daran liege, dass seit über 30 Jahren die Angeleichung der Lebensverhältnisse thematisiert werde.  Oft dominierten auch Regionen die öffentliche Wahrnehmung, in denen es besonders schlecht läuft. „Das setzt sich in den Köpfen fest.“

Nach oben

Link kopieren

Große Teile der Bevölkerung in Thüringen und Sachsen sind frustriert, in den Umfragen vor den Landtagswahlen liegen Protestparteien vorn. Ein bestimmendes Thema: die wirtschaftliche Situation. Doch wie steht es um die regionale Wirtschaft wirklich? Hier sind die wichtigsten Zahlen. 

älterAngestellteArbeitArbeitnehmerArbeitsloseArbeitsmarktAusbildungAuslandAusländerBaden-WürttembergBayernBertelsmannBevölkerungBrandenburgBrüsselBUNDBundeskanzlerBundesregierungChipsDeutschlandDresdenEUEuroFabianFachkräftemangelFlüssiggasFondsFrauenGeldGleichberechtigungGrünheideHessenifoIndustrieIndustrieproduktionInflationInfrastrukturInsolvenzInsolvenzenIntelInvestitionenIWJoachimKaufkraftKindKölnKonjunkturKrisenLandtagswahlenLeyenLinkMagdeburgMANMecklenburg-VorpommernMindestlohnMüllerNiedersachsenNordrhein-WestfalenNRWOlafOlaf ScholzOstdeutschlandRenteRentenRentnerRheinland-PfalzSachsenSachsen-AnhaltSchleswig-HolsteinScholzSchulenSilicon ValleyStarkSteffenSubventionenTeslaThüringenTSMCUmfragenUnionUnternehmenUrsulaUrsula von derUSUSAWeilWirtschaftWirtschaftswachstumZeitZuwanderung