Wirtschaftspolitik: Reiche fordert eine Agenda 2030

Die Bundeswirtschaftsministerin fordert eine neue Agenda zur Stärkung der Wirtschaft in Deutschland. Mit den Reformen der Agenda 2010 habe Deutschland einst eine „neue Dynamik“ erlangt, sagte Katherina Reiche am Montag mit Blick auf das Reformpaket des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD). Nun sei Deutschland erneut in einer Situation, in der das Land ein „umfassendes Fitnessprogramm, eine Agenda 2030“ brauche. Zur Sicherheit wiederholte Reiche das Wort noch einmal: Eine „Agenda für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit“ sei nötig. Die Unternehmen brauchten Freiräume für Innovationen, Energie müsse wieder bezahlbar werden. Der Punkt, mit dem die Ministerin in der Koalition am meisten anecken dürfte: Die Regierung müsse den Mut finden, „auch gegen Widerstände“ Reformen der sozialen Sicherungssysteme durchzuführen.

Reiches Ministerium hielt am Montag in Berlin ein „wirtschaftspolitisches Symposium“ ab. Im Rahmen der Veranstaltung im Berliner Telegraphenamt fand auch eine symbolträchtige Übergabe statt: Die Büste des früheren Wirtschaftsministers und Mitbegründers der Sozialen Marktwirtschaft, Ludwig Erhard, kehrt ins Wirtschaftsministerium zurück. Die Skulptur des Künstlers Wolfgang Ritz zog im Jahr 2007 unter dem damaligen Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) als Leihgabe ins Wirtschaftsministerium ein. Vor zwei Jahren ließen die Eigentümer sie aus Protest gegen die Politik von Robert Habeck (Grüne) entfernen. Nun übergab die Stiftung des Ökonomen Herbert B. Schmidt und seiner Frau Ruth Schmidt-Niemack sie zurück. In den kommenden Tagen soll die bronzene Figur im derzeitigen Quartier des Wirtschaftsministeriums an der Chausseestraße an ihren neuen Platz kommen.

„Wir waren wohl etwas zu cool“

Anders als zur Zeit Ludwig Erhards gehe es heute nicht um die Überwindung von Knappheiten und den Aufbau der Demokratie, sondern um den Erhalt des Wohlstands, sagte Reiche in ihrer Rede. In der Nachkriegszeit seien die Erwartungen der Bürger an die Soziale Marktwirtschaft übertroffen worden. Bei der Wiedervereinigung seien sie dagegen unterschritten worden. Heute erlebe Deutschland „eine strukturelle Krise, wie es sie in der Geschichte der Sozialen Marktwirtschaft noch nicht gab“. Reiche erinnerte an das Lob „Cool Germany“ der britischen Zeitschrift „Economist“ im Jahr 2018. „Wir waren wohl etwas zu cool.“ Deutschland drohe den Anschluss zu verlieren.

Die für das kommende Jahr vorausgesagte Belebung der Konjunktur – die Bundesregierung rechnet mit einem Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts um 1,3 Prozent – sei Folge der höheren Verschuldung, kein Ausweis eines sich selbst tragenden Wirtschaftswachstums. Hinsichtlich des Potenzialwachstums sei Deutschland weiter das Schlusslicht in Europa. Umso wichtiger seien Strukturreformen. „Diese Phase der Nullerjahre zeigt: Wenn es darauf ankommt, sind Veränderungen in diesem Land möglich“, sagte Reiche.

Wirtschaftsweise stellen Herbstgutachten am Mittwoch vor

Im Juli hatte die Wirtschaftsministerin mit der Äußerung für Unmut in der Koalition gesorgt, die Bürger könnten nicht ein Drittel ihres Erwachsenenlebens in Rente verbringen. Am Montag wiederholte sie diese Worte noch einmal. Fehlanreize müssten „auch unter Schmerzen“ abgebaut werden. Es brauche mehr „intergenerationelle Gerechtigkeit“. Reiche warf zudem die Frage auf, „ob wir mit der Lohnfortzahlung ab dem ersten Krankheitstag falsche Anreize setzen“. Fraglich sei auch, ob Führungskräfte den gleichen Kündigungsschutz brauchten wie etwa Pflegekräfte.

Der Zeitpunkt des Symposiums war nicht zufällig gewählt. Am Mittwoch wird der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sein neues Gutachten vorstellen. In der Vergangenheit hatte das Gremium unter anderen eine Abschaffung der „Rente mit 63“ gefordert. Die schwarz-rote Koalition hat indes das Gegenteil beschlossen. Mit der Ausweitung der Mütterrente und der sogenannten Sicherung des Rentenniveaus steigen die Kosten des Rentensystems weiter. Am Donnerstag tagt der Koalitionsausschuss, dann dürfte es neben der Rente auch um Streitthemen wie das Verbrenner-Aus und die Wärmepumpenförderung gehen. Zu Letzterer bezog Reiche in ihrer Rede ebenfalls kurz Stellung: „Auch beim Heizungstausch wird künftig mehr Eigenverantwortung gefragt sein.“

USA vor „fiskalischer Zeitbombe“

Der an der amerikanischen Princeton-Universität lehrende Historiker Harold James zog Parallelen zur Vergangenheit. Als Ludwig Erhard im Nachkriegsdeutschland seine Reformen vorangetrieben habe, sei ihm auch viel Misstrauen entgegengeschlagen. Ähnlich wie damals habe sich die Welt in Blöcken gegenüberstanden. Die USA stünden vor einer „fiskalischen Zeitbombe“, sagte James mit Blick auf die hohe Verschuldung des Landes. China stehe vor gewaltigen demographischen Problemen. Für die Europäer könne das eine Chance sein: „Europa kann eine Schlüsselrolle beim Aufbau eines neuen institutionellen Rahmens für Stabilität spielen“, sagte James.

Als Bernd Stock als Vertreter der Stiftung Reiche die Erhard-Büste offiziell übergab, versah er das mit der Bemerkung, Reiche werde hoffentlich nicht eine Büste „ihres unmittelbaren Vorgängers“ daneben aufstellen. Die Ministerin konnte ihn beruhigen: „Wir belassen es beim Original.“

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