Politiker und vielleicht wir Menschen im Allgemeinen neigen dazu, aktuellen Schwierigkeiten den Rang des Ungewöhnlichen, wenn nicht sogar des Einmaligen, zuzuweisen. Grund genug, die derzeit weithin herrschende Auffassung einer einmalig schweren Krise zu relativieren.
Grundsätzlich lässt sich kaum bestreiten, dass die Welt mit – in der Sprache der Ökonomen – multiplen fundamentalen Schocks konfrontiert ist. Beginnen wir mit den durch Covid ausgelösten Problemen und Verwerfungen. Auch wenn die damit verbundenen akuten Herausforderungen alles in allem gemeistert wurden, hinterlässt dieses Ereignis nachhaltige Spuren in Wirtschaft und Gesellschaft und damit implizit die Botschaft, die Warnung vor neuen Pandemien ungeahnten Ausmaßes ernst zu nehmen.
Kaum waren die schlimmsten Auswirkungen von Covid überwunden, hat Russland die Ukraine mit einem Krieg überzogen, wie er weithin in Europa kaum mehr für möglich gehalten wurde. War das Bild vom Ende der Geschichte schon im Ansatz falsch, hat dieser brutale Angriffskrieg die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs scheinbar berechtigten Hoffnungen auf eine dauerhaft friedliche Zukunft zerstört. Statt des Traums von Immanuel Kants immerwährendem Frieden müssen wir im Nahen Osten jetzt noch eine weitere kriegerische Auseinandersetzung registrieren.
Auf der globalen Ebene droht mit dem Griff Chinas nach Taiwan ein Konflikt mit Gefahren, die in einem Weltenbrand enden könnten. Graham Allison von der Harvard Kennedy School charakterisiert die Konfrontation zwischen China und den USA als „Thukydides-Falle“, nach dem griechischen Historiker, der den Konflikt zwischen Sparta und Athen beschrieb. Er diagnostiziert für die vergangenen 500 Jahre 16 Konstellationen, in denen, wie zu Zeiten Spartas und Athens, eine aufstrebende Macht die bis dahin dominierende herausgefordert hat. In zwölf Fällen endete diese Konkurrenz im Krieg.
Dazu muss es zwischen China und den USA nicht kommen. Aber auf jeden Fall werden die unausbleiblichen Spannungen die Geopolitik und damit auch das Gesicht der Weltwirtschaft verändern. Die Globalisierung ist im Rückwärtsgang. Gerade eine offene Wirtschaft wie Deutschland steht damit vor einer gewaltigen Herausforderung. Die regelbasierte globale Ordnung, einst begründet in Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und der Welthandelsorganisation, löst sich immer stärker auf und macht Platz für einen Wettbewerb der Blöcke und Systeme.
Es besteht wenig Grund, die sich anbahnende Welle eines ausufernden Protektionismus gelassen zu beurteilen. Die etwas naive Vorstellung der Konvergenz zu einem neuen handelspolitischen Gleichgewicht unterschätzt die Dynamik eines Geschehens, in dem Handelsbeschränkungen Vergeltungsmaßnahmen herausfordern und in einer Abwärtsspirale des internationalen Handels enden könnten.
Schocks mit unterschiedlichen Dimensionen
Auch über die Folgen der Künstlichen Intelligenz herrscht große Unsicherheit. Der Erwartung eines gewaltigen Schubs für Innovation und Produktivitätsgewinne stehen sehr viel vorsichtigere Urteile gegenüber, die auf die Erfahrungen mit vergangenen technischen Errungenschaften verweisen. Es könnte lange dauern, bis unsere Unsicherheit überwunden ist. Den Hinweis auf gewaltige Verschiebungen in der Demographie will ich nur anfügen.
Multiple Schocks treffen Wirtschaft und Gesellschaft mehr oder weniger gleichzeitig. Und doch darf die Simultanität der Vorgänge den Blick nicht versperren für die unterschiedlichen zeitlichen Dimensionen der Schocks. So wie Politik ihre Wirkungen in der Zeit entfaltet, überlappen sich etwa die Auswirkungen im geopolitischen Umfeld, in der Demographie, der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz zu einer kaum durchdringlichen Gemengelage.
In seiner Theorie komplexer Phänomene hat der Ökonom Friedrich August von Hayek darauf verwiesen, vor welchen Problemen die Politik grundsätzlich steht, will sie das wirtschaftliche und gesellschaftliche Geschehen gestalten. Bei so komplexen Phänomenen wie dem Marktgeschehen hängt der Ausgang vom Zusammenwirken vieler Individuen ab. Deshalb ist es kaum möglich, alle Umstände zu erfassen oder zu messen, die für das Ergebnis entscheidend sind.
In den Sozialwissenschaften besteht die Gefahr, dass der Forscher die Dinge für wichtig hält, die sich messen lassen. Diese Tendenz wird nach Ansicht Hayeks manchmal so weit getrieben, dass verlangt wird, unsere Theorien müssten so formuliert werden, dass sie sich nur auf messbare Größen beziehen. Gerade wegen der erhöhten Komplexität erscheint unsere Zeit besonders gefährdet durch eine Politik, die diesen tektonischen Verschiebungen mit einer Anmaßung von Wissen begegnet.
Eine Chance in jeder Krise
Unter dem Eindruck multipler Schocks liegt es nahe, von einer weltumspannenden Krise zu sprechen. Das gilt vor allem dann, wenn man den Begriff wie im Deutschen üblich ausschließlich als eine bedrohliche Situation versteht. Den janusköpfigen Charakter belegt anschaulich das Chinesische. Dort setzt sich das Wort für Krise aus zwei Zeichen zusammen. Das eine Element steht für Gefahr, das andere für Gelegenheit. Genau das meinen wir, wenn wir von der Chance sprechen, die in jeder Krise liegt. Unversehens gibt dann die Krise Anlass zu den schönsten Hoffnungen.
Alles Leben ist dem Risiko ausgesetzt, und jede Krise erhöht das Risiko. Umso mehr gilt das für eine Situation multipler Schocks. Je mehr unser Handeln dem Risiko unterworfen ist, desto größer wird die Unsicherheit, unter der Entscheidungen getroffen werden müssen. Dies gilt nicht zuletzt für die Politik. In dieser Lage gilt es zu unterscheiden zwischen der Unsicherheit, die einem Wahrscheinlichkeitskalkül zugänglich ist, und der „wahren Unsicherheit“, wie sie der Ökonom Frank H. Knight nennt. Diese „höhere“ Form von Unsicherheit ist nicht berechenbar, sie lässt sich daher auch nicht aus dem Kalkül eliminieren.
Jede Analyse, die diese Unterscheidung missachtet, jede Politik, die der irrigen Vorstellung unterliegt, sie könne die Wahrscheinlichkeit solcher wahrhaft unsicheren Entwicklungen erfassen, muss mit der Möglichkeit fundamentaler Fehlentscheidungen rechnen.
Eine verheerende Einschätzung
Ein klassisches Beispiel für das falsche Verständnis von Unsicherheit lieferte der Vorsitzende der amerikanischen Notenbank Alan Greenspan im Jahr 2005. Während der damalige Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, Raghuram Rajan, davor warnte, das Finanzsystem sei unter dem Einfluss von Deregulierung und dem Einsatz neuer Finanzinstrumente bisher unbekannten Risiken ausgesetzt, stimmte die überwältigende Mehrheit der anwesenden Notenbanker und Wissenschaftler mit der Einschätzung Greenspans überein: Die Finanzmärkte hätten durch die weitreichende Entwicklung von gesicherten Darlehen das Risiko breit gestreut. Die immer komplexeren Finanzinstrumente hätten das Finanzsystem flexibler gemacht, effizienter – und widerstandsfähiger.
Es sollte gerade zwei Jahre dauern, bis die Finanzkrise die Weltwirtschaft an den Rand des Abgrunds brachte und diese überhebliche Einschätzung als verheerend entlarvte.
Leider liefert die Geldpolitik zahlreiche Beispiele für Fehleinschätzungen, die auf unzulänglichen oder fehlerhaften Ansätzen beruhen. Herausragend ist das kollektive Versagen der Notenbanken, nach der langen Phase extrem lockerer Geldpolitik aufkommende Inflationsgefahren rechtzeitig zu erkennen. Noch im Februar 2022 erklärte die EZB, es werde nicht sehr lange dauern, bis die Inflationsrate im Euroraum wieder auf das Ziel von zwei Prozent zurückgehe, und zwar ohne einen Beitrag der Geldpolitik.
Wie konnte es zu diesem krassen Prognosefehler kommen? Alle Notenbanken bedienen sich in ihren Prognosen ausgefeilter Modelle. Ganz davon abgesehen, dass diese Modelle die Dynamik der Finanzmärkte nicht erfassen, beruhen die geschätzten Parameter immer auf vergangenen Entwicklungen. Kommt es zu Strukturbrüchen, stimmen die Parameter nicht mehr, wie der Nobelpreisträger Robert Lucas in einem berühmten Aufsatz schon 1976 beschrieben hat.
Strukturbruch durch Covid
Notenbanker sollten sich diese Warnung zum Prinzip machen: Sei auf der Hut vor der Gefahr von zunächst schwer erkennbaren Strukturbrüchen, vertraue nie auf die naheliegende Einschätzung, die für die Geldpolitik relevante Umwelt folge einem durch die Vergangenheit vorbestimmten Pfad. In den Parametern der Inflationsprognosen der Notenbanken spiegeln sich die strukturellen Bedingungen der Vergangenheit wider.
Die Covid-Krise als Mischung aus Angebots- und Nachfrageschock liefert ein eindrucksvolles Beispiel für einen Strukturbruch. Sie verkörpert alles andere als den üblichen Konjunkturabschwung. Der Rückgang der Nachfrage durch die Einschränkungen im Alltag erzeugte einen Konsumstau. Mit dem Wegfall dieser Beschränkungen entlud sich das erzwungene Sparen in einem Nachfragestoß. Auch andere Faktoren spielten eine Rolle, vor allem das starke Wachstum der Geldmenge. Die einschlägigen Prognosemodelle waren jedenfalls nicht geeignet, den Wechsel vom pandemiebedingten Einbruch zum Nachfrageboom zu erfassen. Die dadurch bedingte Fehleinschätzung der Notenbanken ist damit zwar erklärbar, aber nicht entschuldbar.
Um einem möglicherweise naheliegenden Missverständnis zuvorzukommen: Ich habe diese Beispiele gewählt, weil ich mit ihrer Exegese vertraut bin – und nicht deshalb, weil ich generell die Notenbanken verdächtige, die Spitzenposition beim Begehen gravierender Fehlentscheidungen einzunehmen.
In diesem Zusammenhang sei auf eine der vielen Besonderheiten verwiesen, die gesellschaftliche Abläufe von den Objekten der Naturwissenschaften unterscheiden. Jede Prognose von größerer Bedeutung hat ihrerseits Einfluss auf das weitere Geschehen.
Modelle versagen bei großen Ereignissen
Hat schon die Covid-Krise die Modellwelt der Ökonomen erschüttert, gilt das in weit größerem Ausmaß für das Auftreten multipler Schocks. In seinem beeindruckenden Werk „Radical Uncertainty“ belegt der ehemalige Gouverneur der Bank of England Mervyn King die ganze Bandbreite von Unsicherheit und der daraus resultierenden Fehler der Politik. Verbunden damit ist die Frage, inwieweit Modelle überhaupt ein geeignetes Instrument sein können, um die Entscheidungen der Politik auf den richtigen Kurs zu bringen. Für den Bereich der Notenbanken zieht King sarkastisch folgendes Fazit: Unsere Modelle funktionieren sehr gut, wenn nicht viel passiert, aber sie versagen dramatisch, wenn große Ereignisse geschehen – also genau in dem Moment, wenn das Modell mehr bieten sollte als die Extrapolation der Vergangenheit.
Vermutlich gilt diese Einschätzung für viele, wenn nicht alle Bereiche der Politik. Aus dieser Erkenntnis kann man eine Reihe von Schlussfolgerungen ziehen. Wegen der Natur wahrer Unsicherheit ist es eine Illusion zu hoffen, mit höherer Komplexität könne man die immanente Schwäche der herkömmlichen Modelle heilen. Nicht der Verzicht auf Modelle ist die Antwort, sondern der richtige Umgang mit ihnen: Es gilt, die ganze Bandbreite von Prognosen zu nutzen und Alternativszenarien zu präsentieren. Es bedarf immer der Ergänzung durch Analysen, die auch nicht messbare Elemente berücksichtigen.
Und schließlich stellt es eine besondere Herausforderung dar, diese komplexe Gemengelage der Öffentlichkeit verständlich zu kommunizieren. Das realistische Eingeständnis der beschränkten Möglichkeiten von Politik lässt sich allzu leicht als Versagen der Regierenden desavouieren. Die damit verbundene Gefahr der Politikverdrossenheit stellt eine der größten Bedrohungen der Demokratie dar.
In einer Zeit großer Umwälzungen scheint es für die Politik naheliegend, mit entsprechend groß angelegten Eingriffen zu reagieren. Dieser Strategie könnte man das nach dem amerikanischen Ökonomen Bill Brainard benannte Prinzip entgegenhalten, nach dem die Politik, die ihrer Wirkungen so wenig sicher sein kann, die Interventionen eher geringer dosieren sollte.
Es braucht einen umfassenden Ansatz
Meiner Beobachtung nach dominiert in der Politik, vielleicht auch in der Wissenschaft die genau gegenteilige Auffassung, nach dem Motto: Die Dimension der gegenwärtigen Krise verlangt nach großen Lösungen. In der Demokratie bleiben solche Überlegungen Makulatur, wenn sie das Verhalten der Wähler nicht ernst nehmen. Auf jeden Fall gilt es, die Mahnung zu beachten, die der Ökonom John Fullarton schon vor fast 200 Jahren formulierte: Die Größe eines Problems ist kein Grund, es mit falschen Maßnahmen bekämpfen zu wollen. Dieser Hinweis ist keineswegs nur ironisch gemeint.
Auch wenn es trivial klingt: Die Zeit multipler Schocks verlangt von der Politik einen umfassenden Ansatz, der der großen Komplexität von Wirtschaft und Gesellschaft gerecht wird. Ein tragfähiges Gesamtmodell als Grundlage existiert nicht.
Der Versuch, bestehende Gesamtmodelle zu verbessern und damit ihre Komplexität zu erhöhen, ist zum Scheitern verurteilt. Vermutlich liegt der erfolgversprechendste Ansatz darin, mit vergleichsweise einfachen Modellen die komplexe Wirklichkeit kleinteiliger zu analysieren. John Maynard Keynes soll einmal gesagt haben: Wer nur Ökonom ist, ist kein guter Ökonom. Damit ist für die Vertreter unseres Fachs implizit die Aufforderung verbunden, nicht den Blick zu verengen, wenn es um die Analyse gesamtwirtschaftlicher Zusammenhänge und die Gestaltung der Wirtschaftspolitik geht.
Wichtige Erkenntnisse anderer Disziplinen zu nutzen versteht sich von selbst. Es kann sicher auch nicht schaden, die Beiträge großer Ökonomen der Vergangenheit wieder stärker einzubeziehen. Wann ist diese Warnung mehr angebracht als in einer Zeit, in der das wirtschaftliche und gesellschaftliche Geschehen durch fundamentale Schocks durchgeschüttelt wird?