Immer wieder flammen an unterschiedlichen Orten der Welt
Massenproteste auf. Aktuell gehen in Serbien und Indonesien Zehntausende gegen ihre Regierungen auf die Straßen, während sich in Nepal und
in Frankreich neue, landesweite Protestbewegungen formieren. Auch in Kenia und der
Türkei wurde in diesem Jahr schon massenhaft protestiert – zumeist jedoch mit
überschaubaren Ergebnissen. Was muss eigentlich passieren, damit Großproteste
erfolgreich sind? Das erklärt Donatella Della Porta,
eine der weltweit führenden Expertinnen für soziale Bewegungen und politische
Gewalt.
DIE ZEIT: Frau Della Porta, in Indonesien und Serbien
protestieren gerade viele Menschen gegen ihre Regierungen. Verbindet die
Bewegungen mehr als der Frust über schlechte Politik?
Donatella Della Porta: In beiden Fällen lehnen sich die
Protestierenden gegen die soziale Ungerechtigkeit und Korruption in ihrem Land
auf. Außerdem haben sich die Protestbewegungen besonders im Widerstand gegen
staatliche Repression entwickelt – sie sind beide gewissermaßen
regierungsfeindlich.
ZEIT: In Indonesien demonstrierten zunächst nur
einige Hundert Menschen gegen Sonderzahlungen für Abgeordnete. Nachdem die
staatliche paramilitärische Einheit Brimob im Einsatz dagegen einen 21-Jährigen
überfahren hatte, weiteten sich die Proteste stark aus. War das absehbar?
Della Porta: Überraschend
war es jedenfalls nicht. Wenn viele Menschen das Vorgehen staatlicher
Sicherheitsbehörden gegen Protestbewegungen als ungerecht empfinden, kann eine
Welle der Solidarität losbrechen. Das ist besonders wahrscheinlich, wenn
Repressionen friedliche junge Demonstranten treffen.
ZEIT: Auch während des Arabischen Frühlings 2011, bei
den revolutionären Protesten im Iran 2022 und bei den diesjährigen
Demonstrationen in der Türkei und Kenia gab es eine ähnliche Dynamik. Warum
lassen sich Menschen nicht zwangsläufig von Knüppeln, Tränengas oder scharfer
Munition einschüchtern?
Della Porta: Sobald
sich Menschen als Teil eines Kollektivs verstehen, dem gerade Unrecht
widerfährt, verschiebt sich ihre Gefahrenwahrnehmung. Das konnte ich in
Interviews mit Demonstranten während des Arabischen Frühlings in Ägypten
beobachten: Quasi über Nacht fürchteten sie weniger die Polizei als die
Perspektive, ihren Kindern irgendwann nicht erklären zu können, weshalb sie
sich nicht gegen ihre Unterdrücker aufgelehnt haben.
ZEIT: Wenn es also keine effektive Strategie ist:
Warum gehen dann so viele Staaten dennoch gewaltvoll gegen Oppositionelle vor?
Della Porta: Weil sie keine Alternative sehen.
Besonders für autoritäre Regime stellen Proteste ein substanzielles Risiko dar,
deshalb bekämpfen sie sie häufig mit brutalen Mitteln. Doch auch das kann nach
hinten losgehen, nicht nur wegen der Solidarisierungseffekte innerhalb der
Zivilgesellschaft.
ZEIT: Weshalb noch?
Della Porta: Einflussreiche Institutionen können sich
in gesellschaftlichen Konflikten gegen ein Regime wenden. Die Kirche zum
Beispiel oder das Militär, wenn es seine Legitimität durch Angriffe auf die
Zivilgesellschaft nicht aufs Spiel setzen will. Auch die internationalen
Partner einer Regierung können sich unter dem Druck von NGOs und Medien von ihr
abwenden. Angesichts aufkommender Proteste finden sich autoritäre Regime also
im sogenannten dictator’s dilemma wieder: Nicht repressiv vorzugehen, ist
für sie gefährlich, das Gegenteil aber auch.
ZEIT: Die indonesische Regierung versucht, der Lage in
ihrem Land mit einer hybriden Strategie Herr zu werden. Neben gewaltsamen
Interventionen setzt sie auf Beschwichtigung. Sie hat sich beispielsweise für
den Tod des jungen Mannes in der vergangenen Woche verantwortlich erklärt und
angekündigt, die sogenannten Luxuszulagen für Abgeordnete wieder zu
streichen. Kann ein solches Vorgehen Proteste befrieden?
Della
Porta: Bei kleineren
Konflikten kann das funktionieren. Liegen die Ursachen für Proteste jedoch
tiefer, können Zugeständnisse genau den gegenteiligen Effekt erreichen. Sie lassen
sich von den Demonstranten als Sieg werten und können die Hoffnung auf grundsätzlichere
Veränderungen nähren. Das ist in Indonesien aktuell der Fall. In Serbien auch.
ZEIT: Aktuell erleben wir gleich mehrere globale politische
Krisen: Man denke nur an die ökologische Krise oder die weltweit immer weiter
auseinanderklaffende soziale Ungleichheit. Gegen beide Phänomene regt sich
vermehrter Widerstand. Bewegen wir uns hinein in ein Zeitalter der
Massenproteste?
Della Porta: Ja. Weltweit beobachten wir eine breite
Unzufriedenheit mit den regierenden Eliten. Ihnen wird kaum mehr zugetraut, die
großen Krisen unserer Zeit zu lösen. Aber auch die neuen Möglichkeiten zu
schneller, unvermittelter Kommunikation durch soziale Medien erleichtern die
Organisation groß angelegter Proteste. Zudem gelingt es sozialen Bewegungen
immer besser, wirksame Strategien und Taktiken voneinander zu lernen und breite
Bündnisse aufzubauen – zum Beispiel zwischen NGOs und aktivistischeren Gruppen.
ZEIT: Was genau muss passieren, damit Massenproteste
– besonders solche gegen autoritäre Regime – erfolgreich sind?
Della Porta: Dafür gibt es natürlich kein Rezept. Was
beispielsweise zum Fall der Mauer 1989 geführt hat, wird nicht unbedingt in Indonesien
funktionieren. Und was dort möglicherweise zu Erfolgen führt, muss nicht in
Serbien klappen. Proteste sind historisch spezifische Ereignisse. Dennoch gibt es
aber gewisse Faktoren, die die Erfolgschancen von Protestbewegungen erhöhen.
ZEIT: Welche sind das?
Della Porta: Wenn Bewegungen politische Kämpfe
gewinnen wollen, müssen sie die öffentliche Meinung zu ihren Gunsten verschieben. Zudem ist eine positive Dynamik der Protestbewegung entscheidend, also
dass es ihr gelingt, stetig anzuwachsen und ihre Forderungen inhaltlich zu
vertiefen.
ZEIT: Wie die serbische Bewegung? Die hatte zunächst
Aufklärung für den Einsturz des Bahnhofsvordachs in der Stadt Novi Sad
gefordert. Dabei starben 16 Menschen, wofür Studierende und andere
Oppositionelle die Regierung um den Präsidenten Aleksandar Vučić mitverantwortlich machen. Mittlerweile verlangt die Bewegung Neuwahlen.