Manche erklären die ständigen Kurswechsel der Regierung Trump mit einer bewussten Strategie nach Richard Nixons „Madman Theory“. Allerdings erwies sich diese Methode schon um 1970 als nutzlos, ja, schlimmer noch: als kontraproduktiv.
Außenpolitik ist etwas für besonnene Menschen mit strikter Selbstbeherrschung, eisernen Nerven und hervorragender Bildung, gleichermaßen zum jeweiligen Gegenüber und seinem Land wie zur Vorgeschichte der jeweiligen Gespräche, also zur Vergangenheit. Eitle Selbstdarsteller haben in diesem hochbrisanten Politikfeld so wenig zu suchen wie Bildungsblender oder Menschen, die vor allem auf öffentlichen Beifall schielen. Denn Außenpolitik ist nur dann wirklich wichtig, wenn es hart auf hart geht; in solchen Fällen allerdings ist überzeugendes Verhandeln (über-)lebenswichtig.
Umso erstaunlicher ist eine gänzlich entgegengesetzte Herangehensweise, die Anfang der 1970er-Jahre erstmals breit diskutiert wurde, tatsächlich aber fast ein halbes Jahrtausend älter ist. Durch die gegenwärtig ständigen Kurswechsel des amtierenden US-Präsidenten Donald Trump gegenüber dem Aggressor Russland, aber auch etwas abgeschwächt gegenüber Israel und der Terrorgruppe Hamas hat diese andere Art von Außenpolitik – scheinbar oder tatsächlich – Aktualität gewonnen. Jedenfalls urteilt etwa die britische BBC, er habe „seine Unberechenbarkeit zu einem zentralen strategischen und politischen Vorteil gemacht, zu einer Doktrin erhoben. Nun prägt diese Charaktereigenschaft, die er ins Weiße Haus mitbrachte“, die Außen- und Sicherheitspolitik.
„Ich nenne es die Wahnsinnigen-Theorie“, sagte Trumps Vorgänger Richard Nixon zu seinem Stabschef Bob Haldeman dessen Memoiren zufolge: „Ich will, dass die Nordvietnamesen glauben, ich sei an einem Punkt angelangt, an dem ich alles tun würde, um den Krieg zu beenden.“ Die US-Verhandler müssten, um den Dschungelkrieg in Südostasien zu beenden, dem Regime in Hanoi zu verstehen geben: „Um Gottes Willen, ihr wisst doch, Nixon ist vom Kommunismus besessen. Wir können ihn nicht zügeln, wenn er wütend ist – und er hat die Hand am Atomknopf.“
Tatsächlich agierte der 37. Präsident zu Beginn seiner Amtszeit mehrfach nach diesem Muster, und das teilweise auch gegenüber Verbündeten. Im Juli 1969 stellte er zum Beispiel den südvietnamesischen Machthaber Nguyễn Văn Thiệu vor die Alternative, den Aggressoren aus Nordvietnam nachzugeben – oder einen Atombombeneinsatz zu provozieren. Drei Monate später ließ Nixon das US-Militär in volle globale Kriegsbereitschaft versetzen; tagelang flogen schwere Bomber mit thermonuklearen Bomben knapp außerhalb der damaligen sowjetischen Grenzen. Vornehmlich eine Botschaft an das Regime in Hanoi war auch die Invasion von US-Truppen in Kambodscha ab April 1970: KP-Chef Lê Duẩn und Premierminister Phạm Văn Đồng sollten fürchten, selbst eine direkte Invasion in Nordvietnam sei Nixon zuzutrauen.
Ein Vorläufer der „Madman Theory“ findet sich bei Niccolò Machiavelli, dem italienischen Theoretiker der eiskalten Machtpolitik. In seinem neben dem „Il Principe“ zweiten Hauptwerk „Discorsi“ (erstmals erschienen 1531) argumentierte er, manchmal sei es „weise, sich zu rechter Zeit töricht zu stellen“.
Allerdings kannte Nixon Machiavelli, wenn überhaupt, dann nur dem Namen nach – sein Mitarbeiter Henry Kissinger, erst Sicherheitsberater, dann Außenminister, hingegen hatte beide Hauptwerke des Staatstheoretikers genau studiert. Sich selbst sah er aber, entsprechenden Vorwürfen zum Trotz, gerade nicht in dessen Tradition. Nixon führte seine Taktik vielmehr zurück auf das „Brinksmanship“ der 1950er-Jahre. Präsident Dwight D. Eisenhower (dessen Vize Nixon acht Jahre lang war) und vor allem sein Außenminister John Foster Dulles hegten mit dieser „Politik am Rande des Abgrunds“ die Sowjetunion erfolgreich ein. Auch John F. Kennedy griff in der Kubakrise 1962 zu diesem Mittel.
Doch unterschied sich das „Brinksmanship“ grundsätzlich von der „Madman Theory“: Zwar ging es beiden Taktiken darum, den Gegner in Angst zu versetzen. Doch beim Eisenhower-Dulles-Kennedy-Modell stand die Rationalität der handelnden Personen nie infrage. Bei Nixon war das anders: Er ließ durchsickern, die US-Führung sei uneinig über die Vorgaben des Präsidenten.
Als während der Kubakrise der US-Botschafter bei den Vereinten Nationen Adlai E. Stevenson bei einer internen Besprechung eine wesentlich andere Linie vertrat als Kennedy, schickte der Präsident gerade ihn in die entscheidende Sitzung im Sicherheitsrat. Diese Konfrontation gewann Stevenson triumphal gegen den sowjetischen Botschafter unter anderem mit seinem gelassenen Hinweis: „Ich bin bereit, auf meine Antwort zu warten, bis die Hölle einfriert.“ Damit signalisierte Kennedy das genaue Gegenteil der „Madman Theory“ Richtung Moskau: Einigkeit statt Zerstrittenheit, verlässliche Rationalität statt Unberechenbarkeit.
Interessant ist, dass gerade der damalige Machthaber im Kreml, Nikita Chruschtschow, seinerseits mitunter den Verrückten gab, etwa bei seinem legendären Ausraster in der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York am 12. Oktober 1960. Unklar ist allerdings, wie viel davon kalt kalkuliert war und wie viel echte Wut.
Die „Madman Theory“ eignet sich, wenn überhaupt, dann nur für seltene kurzfristige Einschüchterungen. Sobald das Gegenüber ein Politiker mit Standvermögen ist, versagt diese Taktik. Hier zählen nur die Tugenden klassischer Sicherheitsdiplomatie: hervorragende Kenntnis des Gesprächspartners – statt Unwissen; Hartnäckigkeit – statt Wankelmut; eng geschlossene Reihen der eigenen Seite – statt Uneinigkeit (ob nun echt oder imaginiert). So lassen sich auch Zugeständnisse machen, ohne als schwach dazustehen.
Die großen außenpolitischen Erfolge der jüngeren Zeitgeschichte folgten alle diesem Muster: Ronald Reagan demonstrierte glaubhaft die Bereitschaft, die Sowjetunion in den ökonomischen Untergang zu rüsten, verband das aber mit Signalen der Entspannung, die schließlich Früchte trugen. Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher setzten 1990 geschickt die Westbindung auch des vereinigten Deutschlands gegen widerstrebende Kräfte in Moskau durch.
Übrigens stand Reagan mindestens einmal im Verdacht, Nixons „Madman Theory“ wiederbeleben zu wollen. Am 11. August 1984 sagte er in ein Mikrofon: „Liebe Landsleute, ich freue mich, Ihnen heute mitteilen zu können, dass ich ein Gesetz unterzeichnet habe, das Russland für vogelfrei erklärt. Wir beginnen in fünf Minuten mit der Bombardierung.“
Es sollte ein Scherz während der Tonprobe sein, doch es wurde bereits live übertragen. Reagans Reaktion – er entschuldigte sich umgehend – deutet darauf hin, dass es sich tatsächlich um ein Missverständnis handelte. Nicht um einen Versuch des 40. Präsidenten, an den 37. anzuknüpfen.
WELT-Chefredakteur Jan-Philipp Burgard schrieb schon 2018: „Einige politische Beobachter glauben, dass Trump die ,Mad Man Theory‘ teilweise zu adaptieren versucht.“ Jedoch halte eine nennenswerte Zahl von Experten „Trumps Gebaren nicht mehr für Taktik, sondern für ein krankhaftes Verhalten“.
In jedem Fall gilt: Bluffen lässt sich nur, wer schwach ist. Im Kräftemessen, das Außenpolitik in allen wirklich wichtigen Fragen stets ist, verspricht diese Methode selten Aussicht auf Erfolg. Vor allem, wenn man es mit jemandem zu tun hat, der ungefähr jedes Risiko einzugehen bereit ist. Über die „Madman Theory“ lachen eiskalte Machtpolitiker höchstens – so wie Wladimir Putin mutmaßlich über Donald Trump.
Sven Felix Kellerhoff ist Leitender Redakteur bei WELTGeschichte. Zu seinen Themenschwerpunkten zählen der Nationalsozialismus, die SED-Diktatur, linker und rechter Terrorismus sowie Verschwörungstheorien.
Source: welt.de