Wiener Festwochen: „Wir wollen mit den Mitteln des Theaters den Kapitalismus hacken“

DIE ZEIT: Was treibt Sie zum Theater?

Milo Rau: Neulich saß ich abends nach den Proben mit meinem Team zusammen und fragte: Geht es euch auch so, dass ihr manchmal eine tiefe Langeweile darüber empfindet, immer die zu sein, die ihr seid? Aus der eigenen Existenz nicht herauszukommen? Ich habe kein Talent zur Einsamkeit. Und jemand anderes als wir selbst sein, das können wir nur gemeinsam. Deshalb sitzen wir zusammen, machen Projekte und erfinden Geschichten. Geschichten, die uns retten vor der Einsamkeit.

ZEIT: Und das Theater ist der Ort der Rettung?

Rau: René Pollesch hat gesagt: „Allein kann ich nicht denken, allein habe ich nur Gefühle. Ich brauche andere, um zu denken.“ Und so geht es mir auch. Ich finde diese anderen auf der Bühne, bei der Arbeit, beim Reden und Schreiben.

ZEIT: Sie machen aber Theater nicht nur aus Eigennutz; Sie haben den Ehrgeiz, die Wirklichkeit zu verändern. Sie haben mit Landlosen im Amazonasdschungel Antigone inszeniert, um die Lebensbedingungen dieser Menschen zu verbessern. Sie haben in Süditalien mit afrikanischen Migranten die Passion Christi inszeniert und damit die Mafia und den Staat herausgefordert – denn diese Immigranten waren auf Tomatenplantagen von der Mafia als Arbeitssklaven missbraucht worden. Sie haben im Kongo den Zusammenhang zwischen der katastrophalen Lage dieses Landes und der Rohstoffgier großer Konzerne untersucht. Und so weiter, die Liste Ihrer Projekte ist lang. Aber was hat das gebracht? Ist es nicht eine Gefahr Ihrer Arbeitsweise, dass Sie Konflikte als künftige Aufführungen sehen? Und sich fragen: Um welchen Missstand mache ich meine nächste Produktschleife?

Rau: Mir wird bisweilen Tourismus des Leidens vorgeworfen. Aber ich reise nicht wie ein Kriegsreporter in ein Katastrophengebiet, mache meine Bilder und verschwinde wieder. Die Projekte gehen ja weiter. Mit dem Ostkongo zum Beispiel beschäftige ich mich seit 15 Jahren, mit anderen Themen noch länger. Im Grund sind es obsessive Beschäftigungen mit immer den gleichen Orten.

ZEIT: Und was haben diese Orte davon?

Rau: Alle Immigranten, die im Neuen Evangelium, dem Passionsstück, dabei waren, wurden „regularisiert“ – sie erhielten Aufenthaltsrecht in Italien. Dann haben wir ein Distributionsnetzwerk für Tomaten aus der Region geschaffen, das wächst und wächst; es sind jetzt schon über tausend Arbeiter mit Papieren, Menschen, die vorher illegal, wehrlos der Mafia ausgeliefert waren. Und die Landlosen im Amazonas erhalten alle Tantiemen von der Antigone-Tour; das ist sehr viel Geld, bis jetzt über 100.000 Euro. So ergeben sich andere Produktionszusammenhänge.

ZEIT: Sie benützen gern das Wort „Schubumkehr“.

Rau: Wir versuchen, die Marktstrukturen zu verstehen und sie uns anzueignen. Im Grunde wollen wir mit den Mitteln des Theaters den Kapitalismus hacken; in Institutionen reingehen und sie umwandeln – in Orte des Widerstands und der Würde.

ZEIT: Und nun sind Sie in Wien der Intendant eines der größten Festivals Europas …

Rau: Wenn mir Leute sagen: Jetzt bist du endgültig Establishment und wirst der Leiter von diesem riesigen Festival, dann sag ich: Ja, genau! Es ist ein bewusstes Experiment. Ich will herausfinden: Warum gibt es dieses tolle Festival überhaupt? Was können wir damit verändern?

ZEIT: Das bürgerliche Theater ist für Sie eine Museumsveranstaltung, von der nichts Vitales zu erwarten ist. Nun ist aber Wien gewissermaßen die Hauptstadt des bürgerlichen Theaters.

Rau: Es ist vermutlich der größte performative Selbstwiderspruch, dass ich Intendant der Wiener Festwochen bin und gleichzeitig Revolution spielen will. Das grenzt ans Absurde, vermutlich auch ans Lächerliche. In Österreich wird es extrem beobachtet, was der Leiter der Festwochen tut. Wenn man hier etwas beschließt, ist es immer, als würde man es im Namen der ganzen Kulturwelt tun.

ZEIT: Sie sind in Wien durchaus nicht einhellig freundlich begrüßt worden …

Rau: Zum Glück. Von Lenin stammt der Satz: „Die Revolution ist dann vorbei, wenn den Revolutionären Monumente errichtet werden.“ Das Lustige ist, etwa zehn Jahre nachdem er das geschrieben hat, wurden ihm Denkmäler errichtet. Das muss man also vermeiden. Deshalb gehe ich immer fort, wenn man anfängt, mich so richtig zu lieben, also wenn man mich einsortiert hat und auch nicht mehr braucht. Das war in Belgien so, also ging ich nach Wien und hab gemerkt: Die Leute lieben mich hier noch nicht so besonders, eher im Gegenteil. Aber ich werde gebraucht, denn es gibt hier ein paar Strukturen, die total überholt oder nicht hinterfragt sind. Und ich hoffe, wenn die toxische Phase vorbei ist, wird das eine Eigenbewegung bekommen.

ZEIT: Sie wurden angegriffen von Ariel Muzicant, dem ehemaligen Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, weil Sie Omri Boehm eingeladen haben, einen Eröffnungsvortrag auf dem Wiener Judenplatz zu halten. Omri Boehm, deutsch-jüdischer Philosoph, ist ein Kritiker der israelischen Regierung und wird von Muzicant als Antisemit bezeichnet. Ihnen wirft Muzicant vor, Sie würden mit Ihrer Einladungspolitik Antisemitismus schüren. Unter anderem haben Sie Annie Ernaux, eine scharfe Kritikerin Israels, zur Zusammenarbeit eingeladen. Auch rechte Wiener Politiker schlossen sich der Kritik gegen Sie an.

Rau: Am Ende hat sogar der Nationalratspräsident, ein ÖVP-Politiker, berühmt für seine Kooperation mit der FPÖ, die Ausladung von Ernaux gefordert. Aber wenn man jemanden grundlos des Antisemitismus bezichtigt, zerstört man den Begriff. Ich habe in den Neunzigern Linguistik studiert, und als ich ausgebildet wurde, waren die Begriffe entpolitisiert, dadurch aber auch genau. Wenn man Antisemit gesagt hat, hat man dabei an den Holocaust gedacht oder an Übergriffe gegen Juden. Aber es ging nicht darum, jemandem lokalpolitisch eins auszuwischen.

DIE ZEIT: Was treibt Sie zum Theater?

Milo Rau: Neulich saß ich abends nach den Proben mit meinem Team zusammen und fragte: Geht es euch auch so, dass ihr manchmal eine tiefe Langeweile darüber empfindet, immer die zu sein, die ihr seid? Aus der eigenen Existenz nicht herauszukommen? Ich habe kein Talent zur Einsamkeit. Und jemand anderes als wir selbst sein, das können wir nur gemeinsam. Deshalb sitzen wir zusammen, machen Projekte und erfinden Geschichten. Geschichten, die uns retten vor der Einsamkeit.

ZEIT: Und das Theater ist der Ort der Rettung?

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