Im Kreis der Siebenergruppe (G 7) ist Deutschland ein Sonderfall. Als einziges Land unter den großen Industriestaaten hält Deutschland die Staatsschulden seit rund 15 Jahren einigermaßen im Zaum, sie wachsen nicht ins Unermessliche. Seit der Corona-Pandemie erreichen die Staatsschulden in den anderen G-7-Staaten mehr als 100 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung, mit steigender Tendenz – nur in Deutschland nicht. Seit dem Hoch im Jahr 2010 von 80 Prozent ist die deutsche Schuldenquote im Trend gesunken. Zuletzt waren es knapp 63 Prozent, wenig mehr als der europäische Zielwert von 60 Prozent. Der Grund ist die Schuldengrenze.
Doch wie viele neue Schulden sind möglich, ohne dass das Vertrauen in den Staat leidet? Rund 60 Prozent wie in Deutschland? 120 Prozent wie in den Vereinigten Staaten, die ihre Schulden stetig ausweiten und die Schuldenquote seit der Jahrhundertwende in etwa verdoppelt haben? 250 Prozent wie seit vielen Jahren schon in Japan?
Das deutsche Misstrauen gegen die Staatsschuld gründet in den Bedenken der Bürger, dass ihnen irgendwann die Rechnung in Form höherer Steuern präsentiert wird. Es gründet in der Sorge, dass die Staatsverschuldung die Zinsen in die Höhe treibt. Es gründet vor allem in der Angst, dass zu viel öffentliche Schuld die Währung ruinieren kann, weil Kapitalanleger das Vertrauen in das Land verlieren. Wenn eine Zentralbank sich erst gezwungen sieht, Staatsschuldenpapiere in großem Umfang aufzukaufen, um einen Kollaps des Finanzsystems zu verhindern, kann die Inflationsbekämpfung leiden. Die Euro-Staatsschuldenkrise hat gezeigt, wie schnell die Stimmung an den Finanzmärkten kippen kann.
Umso mehr überrascht der Schwenk der Deutschen Bundesbank in der Schuldenfrage. Am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos warb Präsident Joachim Nagel für eine große Lösung. „Ich denke, man sollte nicht nur kleine Änderungen vornehmen“, sagte Nagel dort. „Wir müssen am Gesamtkonzept der Schuldenbremse arbeiten.“ Andernfalls werde die neue Bundesregierung deutlich eingeengt. Die Schuldenbremse habe gut funktioniert. „Aber nun leben wir in einer Welt tektonischer Veränderungen, und das müssen wir angehen.“ Nagel plädierte für eine höhere Neuverschuldung zugunsten von Investitionen, selbst wenn die Gesamtschuld schon mehr als 60 Prozent des BIP betrage.
Eine Koppelung der Neuverschuldung an die Investitionen wäre nichts Neues. Lange stand genau das im Grundgesetz. Dahinter stand die Überlegung, dass noch die Kinder und Enkel von Ausgaben in die Infrastruktur profitieren. Daher wollte man sie über Kredite an der Finanzierung beteiligen. Zugleich gab es eine Öffnungsklausel. Zur Abwehr einer gesamtwirtschaftlichen Störung durfte eine Regierung gleichsam unbegrenzt Kredite aufnehmen. Hierbei hatte sie einen großen Ermessensspielraum, den sie oft in ihrem Sinne zu nutzen wusste.
Im Ergebnis ist die Staatsschuld kräftig gestiegen: in der sozialliberalen Zeit im Kampf gegen Wirtschaftskrisen, nach der deutschen Einheit, in der globalen Finanzkrise 2008. Danach war die Sorge groß, dass die Kreditlast künftigen Generationen jegliche finanzielle Luft nimmt. Die neue Idee war die Schuldengrenze. Sie begrenzt die Neuverschuldung im Bund auf 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung. Die Länder verzichteten auf ihren Anteil.
Schuldenbremse greift mit voller Härte
Auch diese Regel enthält Ausnahmen. Zum einen darf die Verschuldung mit der Konjunktur „atmen“. Zum anderen sind mehr Kredite möglich im Fall von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen. Die Ampelregierung versuchte, nicht benötigte Notlagen-Kreditermächtigungen aus dem Vorjahr in ihre Zeit zu retten. Die Sache ging für sie übel aus. Das Bundesverfassungsgericht verwarf diese Aktion, weil sie gegen zentrale Haushaltsgrundsätze verstieß.
So greift jetzt die Schuldenbremse mit voller Härte. Die in den Krisen gestiegene Schuldenquote bewegt sich in Richtung 60 Prozent. Zugleich rückt die Tilgung der Notlagenkredite näher. Damit soll es 2028 losgehen – dem Jahr, in dem das Sondervermögen zur Stärkung der Bundeswehr aufgebraucht sein wird, das eine sehr große Koalition von SPD, Grünen, FDP und Union nach Russlands Überfall auf die Ukraine neben die Schuldenregel ins Grundgesetz geschrieben hatte. Auf die nächste Regierung wartet so eine gewaltige Herausforderung.
Das befördert die Diskussion um die Schuldengrenze, die Teile der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Politik für zu eng gesetzt oder gänzlich für verfehlt halten. Die Befürworter einer mehr oder weniger großen Reform argumentieren, dass ohne mehr Schulden die Autobahnbrücken und Bahngleise nicht erneuert werden könnten und die Bundeswehr nicht adäquat ertüchtigt werden könnte. Kürzungen im Sozialen oder der staatlichen Bürokratie schließen viele Gegner der Schuldenbremse aus.
Die niedrigen Zinsen der USA
Kann in der angespannten Lage Amerika Vorbild sein? Nach Berechnung des Internationalen Währungsfonds (IWF) gehören die USA inzwischen zur Gruppe der zwanzig am höchsten verschuldeten Länder, am Anfang des Jahrhunderts zählten sie noch zu den am wenigsten verschuldeten Nationen. Die amerikanische Bundesregierung ist derzeit mit 36 Billionen Dollar verschuldet. Hohe Defizite werden chronisch. Im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung werden sie in den kommenden Jahren mit jeweils fünf Prozent oder mehr erwartet. Vom Gouverneur der Notenbank, Jerome Powell, über die Rechnungsprüfer des Kongresses bis zu vielen Ökonomen senden alle die gleiche Botschaft an die Politik: So kann es nicht mehr lange weitergehen.
Das schnelle Schuldenwachstum in den vergangenen zwanzig Jahren geschah in zwei Schüben: nach der Finanzkrise und nach der Covid-19-Pandemie. Die Krisen zwangen die Politiker zum Handeln. Die meisten Konjunkturpakete wurden mit Stimmen aus beiden Parteien verabschiedet. Eine verblüffende Erfahrung begünstigte die Entwicklung. Egal wie viel Geld die Regierung aufnahm, die Zinsen blieben niedrig. Theorien von einer säkularen Stagnation kursierten, von einer Zeit niedriger Zinsen und geringen Wachstums. Die Vorstellung war, es wird dauerhaft zu viel gespart und zu wenig investiert. Die Erwartung, dass die Zinsen lange im Keller bleiben dürften, verführte zu noch mehr Staatsausgaben.
Den akademischen Segen für diese Politik erteilten Schwergewichte der amerikanischen Ökonomik. Harvard-Ökonom Larry Summers warb für mehr Staatsschulden, um der säkularen Stagnation entgegenzuwirken. Der frühere Chefvolkswirt des IWF, Olivier Blanchard, verkündete die rechnerische Weisheit, dass staatliche Schulden gut verkraftbar seien, wenn das Wachstum der Wirtschaft die Zinsrate übersteigt. Dann bleibe das Verhältnis von Schulden zur Wirtschaftsleistung konstant oder sinke sogar. Hinzu kam ein Privileg: Wenn auf der Welt Krisen ausbrachen, suchten die Investoren den sicheren Hafen. Das waren amerikanische Staatsanleihen.
Seitdem die Federal Reserve ihr Staatsanleihen-Portfolio nicht mehr steigert, sondern abschmelzt, steigen die Zinsen und die Probleme für das Finanzministerium. Die Regierung gab zuletzt mehr Geld aus für Anleihezinsen als fürs Militär. Erschwert wird die Entwicklung dadurch, dass die Gesellschaft altert. Damit steigen soziale Ausgaben. An diesen Posten wagt sich selbst der neue Präsident Donald Trump nicht heran. Er hat das Sparen an Elon Musks DOGE-Kommission delegiert. Für höhere Steuern gibt es unter den Republikanern keine Mehrheit. Sie wollen weitere Steuererleichterungen. Das spricht gegen einen Kurswechsel in der Schuldenpolitik.
Japan weit von der schwarzen Null entfernt
Den mit Abstand höchsten Schuldenberg unter den großen Industrienationen hat Japan. Die 1,3 Billiarden Yen (8 Billionen Euro) entsprechen etwa 250 Prozent der Wirtschaftsleistung. Von einer schwarzen Null ist das Land weit entfernt. Schon seit Jahrzehnten wird das Versprechen eines ausgeglichenen Haushalts immer wieder aufgeschoben. Gerade erst erklärte auch Ministerpräsident Shigeru Ishiba, dass es im Anfang April beginnenden neuen Fiskaljahr wieder nichts damit wird. Hatte die Vorgängerregierung noch im vergangenen Sommer einen Haushaltsüberschuss von 800 Milliarden Yen in Aussicht gestellt, rechnet Ishiba nun mit einem Defizit von 4,5 Billionen Yen (27,9 Milliarden Euro), Schattenhaushalte nicht eingerechnet. Auch Zinszahlungen sind nicht berücksichtigt. Zuletzt ging gut ein Viertel des Haushalts für die Zinszahlungen und die Rückzahlung von Anleihen drauf.
Gründe für mehr Schulden findet die Regierung immer: die Folgen der Inflation, den Wiederaufbau nach einem Erdbeben, die heimische Chipindustrie, junge Familien oder die Verteidigung. Eigentlich gilt Ishiba als Verfechter von weniger Schulden. Doch wenn neue Ausgaben beschlossen werden, geht das stets mit dem Versprechen einher, nicht die Steuern zu erhöhen.
Ähnlich wie in Amerika ließen sich Schulden in Japan wegen der lockeren Geldpolitik lange Zeit zum Nulltarif machen. Doch die 2023 begonnene Zinswende der Bank von Japan setzt die Regierung unter Druck. Sie rechnet nun mit einem Anstieg der Zinsen von 0,6 Prozent im Jahr 2023 auf 1,5 Prozent im Jahr 2028. Die Kosten der Staatsschulden würden dadurch um 50 Prozent steigen auf 11,5 Billionen Yen (71,3 Milliarden Euro). Bis 2033 sollen die Langfristzinsen gar auf 3,3 Prozent steigen.
Deutschland steht Japans Schicksal noch bevor
Sorgen vor einer japanischen Schuldenkrise sind im politischen Tokio, aber auch im IWF gering. Japan hat sich fast nur in Yen verschuldet, und die Anleihen werden weit überwiegend von japanischen Investoren gehalten. Die Notenbank hält die Hälfte aller ausstehenden Staatspapiere, die andere Hälfte verteilt sich zum Großteil auf japanische Banken, Versicherungen und Privatanleger. Doch die schnell alternde Bevölkerung bedroht die Staatsfinanzen, weil Sozialausgaben steigen und die Steuereinnahmen tendenziell sinken werden.
Dieses Schicksal steht auch Deutschland bevor. In Berlin werben SPD, Grüne, die Linke und das Wagenknecht-Bündnis für ein Aufbohren der Schuldenregel. Die Union wackelt. Aus den CDU-geführten Ländern wächst der Druck, die Bremse zu lockern. Der Parteivorsitzende Friedrich Merz hat lange dagegengehalten. Doch zuletzt hat der Kanzlerkandidat der Union signalisiert, dass er eine Neuregelung nicht mehr ausschließt. Die FDP hält als Einzige noch kategorisch an der Schuldengrenze fest.
Das Aufbohren der Schuldenbremse ist vor allem im linken Lager populär. Deutschland besteuert seine Betriebe und Bürger intensiv. Es gibt wenig Länder, die härter zulangen. Mehr Staatsausgaben sind so fast nur mit einer stärkeren Verschuldung möglich. Das wiederum spricht gegen eine Lockerung der Schuldenregel. Die Staatsquote ist vergleichsweise hoch. Die Investitionsausgaben stiegen zuletzt kräftig. Steigende Sozialausgaben, wachsende Subventionen und mehr Bürokratie unterspülen die Wachstumskräfte. Korrekturen sind hier schwer durchzusetzen. Das lässt der Politik auf Pump finanzierte Wachstumsprogramme attraktiv erscheinen.