Wie Russland Deutschland im Türkeigeschäft abhängt

Schneller Schlau

Touristen als Rettungsanker der türkischen Wirtschaft

Andreas Mihm (Text) und Claudia Bothe (Grafiken)

02. Dezember 2024 · Die Wirtschaftslage der Türkei bietet viel Licht und viel Schatten. Das hat auch mit Deutschland und Russland zu tun.

Anderthalb Jahre nach der Wiederwahl Recep Tayyip Erdoğans als Präsident der Türkei bleibt die Wirtschaftslage durchwachsen: Die Konjunktur ist mau, die wichtige Autoindustrie produziert weniger, die Inflation ist mit knapp 50 Prozent immer noch hoch. Die Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes (BIP) liegt zwar über der deutschen, doch aktuell fällt sie auch in der Türkei. Das BIP pro Kopf ist gut halb so groß wie das in Deutschland.

Doch wo Schatten fällt, ist auch Licht. So boomt etwa der Tourismus. Im September sorgte er für einen Nettozufluss von 6 Milliarden Dollar. Das bügelte das Defizit der Handelsbilanz aus und hielt die Leistungsbilanz, in der alle Zahlungsströme gebündelt sind, im vierten Monat in Folge im Plus. Ein Erfolg für Erdoğan und seinen im Land ungeliebten Finanzminister Mehmet Şimşek – und es geht weiter aufwärts.

Denn der Türkei-Tourismus eilt zu neuen Rekorden. Bis Ende September kamen laut Tourismus-Ministerium 49,2 Millionen Besucher, darunter 41,9 Millionen ohne türkischen Pass, ein Plus von 7 Prozent. Prompt hob der zuständige Minister Mehmet Nuri Ersoy das Jahresziel von 60 auf 61 Millionen Besucher an. Gäste ohne türkischen Pass dürften damit die bisherige Bestmarke von 49,2 Millionen Besuchern aus 2023 deutlich übertreffen.

In Ankara hofft man, dass sie dieses Jahr 60 Milliarden Dollar im Land lassen. Das lässt den Anteil des Tourismus an der Wirtschaftsleistung weiter steigen. 2022 betrug er 11,5 Prozent; mehr als 3 Millionen Türken finden im Tourismus Arbeit. Schon länger will sich die Türkei als Reiseland etablieren, das mehr bietet als Sommer, Sonne und Strand: Wochenendtrips nach Istanbul, im Spätherbst Troja und Olivenernte an der Ägäis, winterliche Kuren in Thermalbädern, im Frühjahr ­Besuche der UNESCO-Welterbestätten Ostanatoliens.

All das wird strategisch angegangen, vom Neubau von Flughäfen über den Ausbau von Turkish Airlines zur achtgrößten Fluggesellschaft der Welt bis zu einer flexiblen Visumspolitik. Die höchste Zuwachsrate haben Gäste aus Asien: China plus 83 Prozent, Japan plus 81 Prozent, Südkorea plus 35 Prozent.

In realen Zahlen dominierten von Januar bis September Europäer: Die größte Gruppe, 5,5 Millionen, kam aus Russland, ihnen sind Urlaubsorte in der EU seit dem Ukraine-Überfall verschlossen. Allein aus Deutschland reisten 5,2 Millionen Gäste in die Türkei, aus Großbritannien 3,7 Millionen, aus Polen 1,6 Millionen. Auch in den Niederlanden steht das Land als Urlaubsort hoch im Kurs: Mehr als eine Million Gäste buchten die Türkei, obwohl Griechenland zuletzt günstigere Konditionen bot.

Diesen Umstand nutzten im Sommer Zehntausende Türken für ihren Urlaub. Denn die Inflation von aktuell 48 Prozent zehrt stark am Einkommen und den Nerven der Türken, von denen viele kaum wissen, wie sie die hohen Mieten und Lebenshaltungskosten bewältigen sollen. Um die Geldentwertung einzudämmen, steht der Leitzins seit März auf 50 Prozent. Entsprechend teuer sind Kredite, folglich sinkt der Konsum. Abzulesen ist das an schrumpfenden Importausgaben.

Zur Nagelprobe für den Sparkurs werden die Senkung der Neuverschuldung im Staatsetat und die Rate, um die zum Jahreswechsel der gesetzliche Mindestlohn steigen wird. Ökonomen raten davon ab, ihn an die Inflation anzupassen, da das die Teuerung befeuern könnte. Betriebe klagen, sie könnten die Teuerung kaum noch weitergeben. Exporteure wiederum können höhere Kosten im Inland nicht mehr über den Devisenkurs ausgleichen. Die Lira ist stabiler als früher, auch weil ausländische Kapitalgeber die hohen Zinsen für Geldanlagen nutzen. Doch auch Nettoinvestitionen aus dem Ausland, die im Vorjahr sanken, ziehen wieder an.

Viele Jahre war die Bundesrepublik der wichtigste Handelspartner der Türkei. Zuletzt hatte Russland diese Position inne, wobei hohe Preise für Gas und Öl eine Rolle spielten sowie kriegsbedingt ausgeweitete Lieferungen in das von westlichen Sanktionen abgeschirmte Russland. Beides ist zuletzt zurückgegangen, doch behält Russland seine Dominanz.

An zweiter Stelle liegt China, das durch Exporte von 33,2 Milliarden Dollar in die Türkei auffällt, die seine Importe um das 13-Fache übersteigen. Deutschland liegt nach den Zahlen des türkischen Statistikamtes mit aktuell 35 Milliarden Dollar auf Platz drei der größten Handelspartner der Türkei. Allerdings bleibt die Bundesrepu­blik der wichtigste Abnehmer türkischer Waren mit einem Wert von 15,3 Milliarden Dollar, auch wenn der Handel in diesem Jahr schwächelt.

Die Türkei ist nicht nur für Konzerne wie Siemens , Bosch , MAN , Mercedes oder Hugo Boss ein wichtiger Produktionsstandort. Laut Auswärtigem Amt gibt es dort 7700 deutsche Betriebe, umgekehrt wird die Zahl der Geschäftsinhaber mit türkischen Wurzeln in Deutschland von der türkisch-deutschen Handelskammer auf 75.000 geschätzt. „Der florierende Handel, Investitionen und transnationale Beziehungen versprechen weitere Synergien für beide Länder“, schreiben die Fachleute vom Berliner Centrum für angewandte Türkeistudien.

Mit ihrer jungen, konsumhungrigen Bevölkerung ist die Türkei ein interessanter Markt. Zuletzt kündigten die chinesischen Autokonzerne BYD und Chery Investitionen an. Sie nutzen die moderne Infrastruktur an der Nahtstelle zur EU und greifen auf eine technisch gut ausgebildete junge Generation zurück.

Vor 100 Jahren wurde der erste deutsch-türkische Freundschaftsvertrag geschlossen, 1927 das erste Handelsabkommen. 1961 folgte das Arbeitskräfteanwerbeabkommen, auf dessen Grundlage 870.000 Arbeiter nach Deutschland kamen. Seit 1996 sind die EU und die Türkei in einer Zollunion. Deren Modernisierung und Ausweitung auf Landwirtschaft, Dienstleistungen und Digitalisierung stecken aber ebenso fest wie die 2005 begonnenen Gespräche über einen Beitritt der Türkei zur EU.

Letztere hat Interesse an der Türkei, aber nicht mehr an deren Beitritt. Dennoch ist Erdoğans Bereitschaft, die angespannten Beziehungen zur EU zu ­entspannen, augenfällig. Er weiß, dass Europa ihm viel bieten kann jenseits zahlungskräftiger Touristen – zum Beispiel dringend gewünschte Eurofighter-Kampfflugzeuge.

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