
Was war da noch gleich mit Napoleon II.? Er ist, so war es vom Fürsten Metternich gewollt, aus den Geschichtsbüchern verschwunden, der Sohn von Napoleon I. und Cousin von Napoleon III. Dieser Napoleon Franz Joseph Karl Bonaparte wurde 1811 geboren, sein Vater machte ihn zum König von Rom. 1811 dankte dieser ab, dann wurde Napoleon II. Prinz von Parma.
Schließlich – in Frankreich regierte jetzt Ludwig XIII., er selbst lebte mit seiner Mutter, der Habsburger-Prinzessin Marie-Louise längst wieder in Schönbrunn bei Wien – wurde er Herzog von Reichstadt. Österreich war dem blonden, oft in weiße Uniformen gekleideten Jüngling Exil und Gefängnis, denn die Regierung wollte nach dem Tod seines Vater 1821 jedes Erstarken des Bonapartismus verhindern. 1832 starb Napoleon Franz Joseph 21-jährig an Tuberkulose.
Ein Vergessener, bis heute. Seine prachtvolle Empirewiege gehört zu den Prunkstücken der Wiener Schatzkammer in der Hofburg. Ihr Nachbau steht jetzt auf der Bühne des Staatstheaters Mainz, jener Stadt, die von den Franzosen immer wieder bedroht und erobert wurde, auch von Napoleon. An ihrem Fußende sitzt ein junger, noch nicht flugfähiger Adler aus vergoldetem Holz. Und „L’Aiglon“ – „Sohn des Adlers“ – so nennen auch die französischen Napoleon-Fans den aus der Historie beinahe getilgten Kaiserspross.
Besonders um 1900 feierte er in Frankreich ein reiches Nachleben, geschürt von einem Historienstück des „Cyrano de Bergerac“-Dichters Edmond Rostand, das dieser speziell für den Schauspielstar Sarah Bernardt geschrieben hatte. Von der immensen Popularität der Bernardt in dieser Hosenrolle zeugen die verrücktesten Aiglon-Merchandise-Produkte, wie sie kürzlich in einer Pariser Bernardt-Schau ausgestellt waren.
In Mainz spielt man jetzt ein Spät-Artefakt dieser Adlerwelle: „L’Aiglon“, das originelle Gemeinschaftsopernwerk von Jacques Ibert und Arthur Honegger. Der eine war für die zwei äußeren, der andere für drei Binnenakte zuständig. Man merkt den stilistischen Unterschied kaum, obwohl das kompakte Stück in seiner prägnanten Kürze nur 100 klangwürzige Minuten dauert. 1937 in Monte-Carlo uraufgeführt, verschwand es nach der deutschen Annexion schnell von den Spielplänen; heute taucht es dort bisweilen auf den Provinzbühnen auf.
Umso willkommener also, diese effektvoll klingende, erstaunlich kammermusikalische, sogar eine walzernde Tanzeinlage umfassende Parlando-Oper mal auf einer deutschen Bühne zu erleben. Auch im Musiktheater ist dieser Traumprinz ein Sopran, umso unwirklicher wirkt seine Existenz zwischen dem misstrauisch-einschüchternden Metternich (der stramm polternde Gabriel Rollinson), den ihn für seine monarchischen Zwecke einspannen wollenden Emigranten und Kammerdiener Flambeau (revolutionsbewegt: Derrick Ballard), seiner Cousine (flirtsicher: Liudmila Maytak), ja sogar der mitintrigierenden Tänzerin Fanny Elssler (Verena Tönjes) sowie seiner eher emotionsarmen Mutter (kühl: Anke Pfeifer).
Die solide arrangierende Regisseurin Luise Kautz und ihre Ausstatter Valentin Mattka und Tanja Liebermann lassen die zarte, etwas vibratostarke Alexandra Samoulidou sehr alleingelassen ihre Adlerflügel entfalten, schlagen, schinden, brechen und schließen – so wie es die Aktüberschriften vorgeben. Dieser Jüngling ist immer von Menschen umgeben und doch allein, er wird nicht geliebt, nur als Objekt missbraucht.
Der kleine Napoleon zerbricht
Irgendwer zerrt immer an diesem Kind, das nicht wirklich erwachsen werden kann oder im Schatten der übergroßen Porträtbilder seines Vaters steht, dem es nie entrinnen wird. Es spielt sich selbst auf einer Bühne, die vorher noch Panoramagemälde war, hinter dem sich Schlachtpläne verbargen.
Überall lauern Schatten, dauernd wird es mit französischen Objekten konfrontiert, es kann seiner Herkunft nicht entfliehen. Selbst eine Komödiantentruppe hat nur einen trübseligen Auftritt. Im letzten Bild, es sind nur noch Fragmente seiner Herkunft zu sehen, zerbricht der zu kleine Napoleon daran. Der Tod mag sogar eine Erlösung sein, für ein ihm aufgebürdetes Schicksal, dass er nicht zu tragen vermag.
Davon zeugt auch die durchaus herb aufgeraute, ja kantige Partitur, die so immer wieder die Stilimitate und geläufige Konversation, die pikant unterlegten Tanzweisen und lauernd neoklassischen Geplänkel unterläuft, sie mit akustisch spannend klingenden Widerhaken wie von den Toten erwachenden Soldaten versetzt. Herrmann Bäumer, scheidender Generalmusikdirektor in Mainz, hatte sich dieses „Drame musical“ ausdrücklich gewünscht, das er jetzt liebevoll klangsinnlich, aber auch rhythmisch vorantreibend ausmusziert. Er hat recht getan.
Source: welt.de