Wenn die Sozialdemokraten in der Hauptstadt Pragmatikern wie ihrem Neuköllner Bezirksbürgermeister Martin Hikel „Denkzettel“ verpassen, schaffen sie sich selbst ab. Viel Glück auf dem Weg in die Einstelligkeit und Bedeutungslosigkeit, möchte man den Genossen zurufen. So wird das nichts mehr mit der Regierungsverantwortung. Zumal es längst linke Parteien gibt – Grüne und Linke –, die radikaler auftreten und ihre linken Neuköllner Nischen-Positionen überzeugender vertreten.
Was ist passiert? Bei der Kreisdelegiertenkonferenz erhielt Hikel nur 68,5 Prozent der Stimmen. Er nahm die Wahl nicht an und zog seine Kandidatur für das Bürgermeisteramt bei der Wahl im September 2026 zurück. Hikel, neben Nicola Böcker-Giannini Co-Chef der Berliner SPD, sagte anschließend: „Ich bin fest überzeugt, dass wir im nächsten Jahr erfolgreich sein können, wenn wir geschlossen sind.“
Nach allem, was zu hören ist, haben vor allem Jusos und Parteilinke Stimmung gegen den beliebten Bezirksbürgermeister gemacht. Seine klare Haltung gegen Clans und Antisemiten kam in diesen Kreisen schlecht an. Zudem soll Hikel sich geweigert haben, den Begriff „antimuslimischer Rassismus“ zu verwenden.
Es ist nicht die erste Demütigung. Schon beim Bundesparteitag Ende Juni wurde Hikel für seinen Neuköllner Pragmatismus abgestraft. Bei seiner Bewerbung um einen Platz im Parteivorstand erzielte er mit 102 Stimmen das schlechteste Ergebnis aller Kandidaten und zog auch damals die Konsequenz und zog zurück.
Als Hikel 2018 Franziska Giffey im Rathaus Neukölln ablöste, galt er noch als Mann des linken Flügels. Der Zwei-Meter-Acht-Hüne war vier Jahre lang Vorsitzender der Neuköllner Jusos. Hikel ist studierter Lehrer für Mathematik und Politikwissenschaft, also kein Berufspolitiker. Mit dem Sprung aus dem Klassenzimmer ins Rathaus wechselte er vom Lehreralltag an der Zehlendorfer Oberschule in den Berliner Politikbetrieb.
Anders als viele Zugezogene, die in Neukölln schnell den Ton angeben wollen, ist er im Bezirk tief verwurzelt. Aufgewachsen in Rudow, lebt er seit dem Studium an der Hermannstraße. Kurz: Er kennt Neukölln mit seinen 330.000 Einwohnern in- und auswendig.
Wer mit Hikel durch Neukölln läuft, merkt, wie beliebt er ist. Ständig wird er gegrüßt, angesprochen, um Fotos gebeten. Er ist präsent – auf der Straße, bei Terminen, bei Einsätzen. Wenn Polizei und Ordnungsamt gegen Clankriminalität vorgehen, schaut er oft persönlich vorbei. Genau das werfen ihm Parteifreunde jetzt vor. Sie behaupten, er befördere damit „antimuslimischen Rassismus“, weil viele kontrollierte Läden von Muslimen betrieben würden.
Kritik aus der Blase
Vielleicht sollten diese Kritiker einmal ihre Blase verlassen und mit mehr Menschen vor Ort sprechen. Wer das tut, hört fast immer Verständnis – und oft die Frage, warum der Staat nicht noch sichtbarer eingreift. Denn im Alltag der meisten Neuköllner geht es nicht um ideologische Debatten, sondern um ganz einfache Dinge: Wird der Müll abgeholt? Sind die Spielplätze sauber? Kommt der Bus pünktlich? Ist mein Block sicher? Viele Aktivisten würden sich wundern, wie universell diese Bedürfnisse sind – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Religion. Genau das hat Martin Hikel verstanden, der während seiner Amtszeit vom Parteilinken zum Pragmatiker reifte.
Wenn man Hikel etwas vorwerfen kann, dann, dass er nicht einfach weitermacht. Knapp 70 Prozent sind Gegenwind, aber keine Niederlage. Die Mehrheit steht hinter ihm. Und gerade in Zeiten, in denen linke und rechte Extreme ihren Hass verbreiten, müssen aufrechte Demokraten sich ein dickeres Fell zulegen – und den Fehdehandschuh aufnehmen.
Source: welt.de