„Wicked“: Brav geworden

Um Frauenfreundschaft, Liebe und „irgendwie auch um Faschismus“ gehe es in dem Film, so versprach es beim „Special Fan Screening“ in Berlin die gut gelaunte Moderatorin. Die Influencer im Kinosaal hatten sich da schon portable LED-Scheinwerfer auf ihre iPhones draufgeklemmt, um sich im Halbdunkeln richtig auszuleuchten und den Satz „Das bin ich vor Wicked“ in die Telefon-Kamera zu sagen. Beim Abspann filmten sie sich erneut, „Das bin ich nach Wicked„, sagten sie dann, beides wird zusammengeschnitten, und dann ab durch die LTE-Datenverbindung ins TikTok-Netzwerk. So geht dort ein beliebtes Kino-Meme: Ich davor, ich danach. Wenn denn der Film, der zwischendurch lief, erkennbar Eindruck hinterlassen hat – aber irgendein Eindruck wird sich wohl schon finden oder sonst eben künstlich herstellen lassen.

So wie auch der Film Wicked selbst wirkt wie ein sehr kalkuliert hergestellter Versuch, in der Kernzielgruppe (sehr junge Frauen mit Internet-Anschluss) für positive Aufregung zu sorgen. Ein zweites Barbie soll hier mit aller Gewalt vom popkulturellen Bilderzaun gebrochen werden. Wicked ist die Verfilmung des Musicals Wicked, auf Deutsch Die Hexen von Oz, und schon dieses Musical setzte voraus, dass alle Zuschauer ganz selbstverständlich mit der Handlung des amerikanischen Musik-Kinderfilms Der Zauberer von Oz aus dem Jahr 1939 vertraut sind; in den Vereinigten Staaten gehört der Film zum kulturellen Einmaleins wie Micky Maus, Coca-Cola und Sturmgewehr. In Deutschland nicht unbedingt, deswegen zur Erinnerung: Judy Garland spielt ein Mädchen, das von ihrer Farm in Kansas plötzlich hinweggewirbelsturmt wird in das Fantasiereich Oz, wo sie zusammen mit einer rosa Zauberfee namens Glinda, einem blechernen Mann, einer Vogelscheuche und einem Löwen gegen eine böse Hexe kämpfen muss – die „wicked witch of the west“, die mit viel grüner Theaterschminke und Aufklebewarze im Gesicht durch den Film spukt.

Wicked erzählt jetzt wiederum von der Herkunft dieser bösen Hexe, es wird hier also dekonstruiert, vielleicht sogar dekolonialisiert, es wird jedenfalls in einem Lied ganz wörtlich die Frage gestellt, woher denn die „Bösigkeit“ (süße Übersetzung von wickedness) der Hexe kommt. Die Idee, ausgerechnet dieser Frage nachzugehen, stammt, wie gesagt, aus einem 20 Jahre alten Broadway-Musical. Die Kulturindustrie hat den Plot jetzt wieder ausgegraben, denn er passt in den Zeitgeist – wir haben 2024, es soll jetzt mal die vom Patriarchat totgeschwiegene weibliche Hexen-Perspektive erzählt werden. Seit Jahren schon nobilitiert der Disney-Konzern die Schurkinnen aus alten Filmen zu Heldinnen ihrer je „eigenen Geschichte“, wie man heute sagt. Wir erfahren dann genauer, warum Cruella de Vil den 101 Dalmatinern das Fell über die Ohren ziehen wollte und so weiter.

Da will man jetzt auch wissen: Wie ist die böse Hexe des Westens so böse geworden? Und es stellt sich erst mal heraus: Sie ist zusammen mit der rosa Fee Glinda zur Zauberschule gegangen! Gibt’s doch gar nicht, was für ein Zufall! Verschnörkelt-vergiebelte Zauberschulen kommen bei der Zielgruppe natürlich gut an; die beliebte blonde und blendend gelaunte junge Glinda (gespielt von der 31-jährigen Ariana Grande) und die grummelige Außenseiterin Elphaba (das ist die böse Hexe, also jetzt noch nicht, aber später, gespielt wird sie von der 37-jährigen Cynthia Erivo) sind hier gerade eingeschult worden und jetzt roommates. Aus ihren unterschiedlichen Wesensarten leitet der Film zahlreiche Pointen her, die den jungen Zuschauern im Grunde bereits vertraut sind, weil sie über genau diese Konstellation schon bei der Hype-Fernsehserie Wednesday lachen durften. Die privilegierte Glinda lebt in einer Traumwelt, zwischen pinken Hutkoffern und mobilen Schuhschränken, die lustig aufploppen wie das Spielzeug aus der Polly-Pocket-Fernsehwerbung; Elphaba hingegen hat immer schlechte Laune und muss eine Brille tragen.

Warum ist Elphaba so unbeliebt und grummelig? Die Antwort auf diese zentrale Frage des Films ist leider ein bisschen blöd: weil sie grün ist. Ihre Mutter hat grüne Zaubertinte getrunken, und deswegen kam die kleine Elphaba grün zur Welt und alle fanden das abstoßend, was irgendwie unglaubwürdig ist, weil wir uns ja hier in einem Fantasieland befinden, in dem Tiere sprechen können und allerlei Zauberwesen leben. Elphabas Hebamme zum Beispiel war ein Bär, also warum soll jetzt ausgerechnet grüne Hautfarbe so stören?

Und wo wir schon dabei sind: Was ist jetzt eigentlich mit dem versprochenen Faschismus? An der Zauberschule unterrichtet ein sprechender Ziegenbock das Fach Geschichte. Das computeranimierte, fotorealistische Tier warnt seine Schüler: Wer sich der Vergangenheit nicht erinnert, ist verdammt dazu, sie zu wiederholen! Mäh! Mäh! Eines Tages stehen zwei Gendarmen im Klassenraum und holen ihn ab, denn den Tieren ist das Unterrichten ab sofort verboten. Der Bock ist also in dieser Gesellschaft der, Achtung: Sündenbock! Als man ihn hinauszerrt, wendet er sich noch einmal an die Klasse: Vergesst nicht, dass sie euch nicht die ganze Wahrheit sagen! Mäh!

Diese Szene mag stellvertretend stehen für ein Hollywood-Kino am Ende der Hyperpolitik-Ära, das um jeden Preis politisch sein will, aber weder politische Begriffe, politische Bilder noch einen politischen Gedanken kennt. Der Film ist nicht mal irgendwie queer, sondern so heteronormativ wie ein Mädelsabend in der Cocktailbar; der Regisseur Jon M. Chu ein Hetero-Cis-Mann. Und natürlich hat ein Broadway-Musical wie Wicked keine belastbare Faschismus-Theorie vorzuweisen, so wie Holiday on Ice intellektuell wenig beitragen wird zur Krise des Liberalismus und man bei Mamma Mia! keine Antworten findet auf die Herausforderungen einer multipolaren Weltordnung. Dass Wicked trotzdem so tut, als ob, das macht den Film unfreiwillig komisch.

Bemerkenswert sind auch die ätherisch-öligen Fernsehinterviews, die Ariana Grande und Cynthia Erivo im Rahmen der Filmvermarktung gegeben haben. Die beiden halten sich immer wieder an den Händen, als müssten sie sich beständig Mut zusprechen, manchmal umklammert Grande auch nur den Zeigefinger ihrer Kollegin, wie jemand, der schon mal von Solidarität gehört hat und tapsend, unbeholfen versucht, sie nachzuahmen. Auf die Frage, wie die Rolle sie verändert habe, antwortet Erivo in einem Interview: „I think Elphaba has allowed me to reassure that I am a person and I feel and I have feelings and I can share them“, worauf Ariana Grande ihr anbietet, dass sie jetzt gerne weinen dürfe. Und weinen dürfen, das wollen wir doch alle mal, die wir feelen und feelings haben.

Der Film wird sicher ein großer Erfolg. Die Lieder sind ganz schön.

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