Der wahre Held dieses Westernfilms trägt keinen Colt, sondern eine Lanze. Nicht Jacke und Hut, sondern eine Rüstung. Denn er ist weder Cowboy noch Pionier, sondern ein Ritter, der uns zu Beginn durch dichten Laubwald entgegenkommt. Im Laufe des Films wird er auf ein kleines Mädchen zureiten, das auf einer Lichtung auf ihn wartet. Es heißt Vivienne und möchte von seiner Mutter immer wieder die Geschichte der Jeanne d’Arc vorgelesen bekommen, denn die heilige Jungfrau ist sein großes Vorbild: kämpferisch und stark. Doch der Kindheitstraum erweist sich als Rückblick, denn Vivienne ist bereits eine erwachsene Frau und das Auftauchen des Ritters ein erstes und zugleich letztes Bild: The Dead Don’t Hurt beginnt mit dem Tod.
Und doch wird dieser Western, wie so viele seiner klassischthe den Vorgänger, zwei Stunden später mit einem Neuanfang enden, wenn jene epische Reise zu Ende geht, die Hollywoodstar Viggo Mortensen als Drehbuchautor und Regisseur auf verschlungenen Pfaden und Zeitebenen unternommen hat. Es ist die Geschichte des dänischen Einwanderers Holger Olsen (Mortensen), eines Zimmermanns und Ex-Soldaten, und der aus dem französischen Kanada stammenden Blumenhändlerin Vivienne Le Coudy (Vicky Krieps), die einander in San Francisco über den Weg laufen. Vivienne ist dabei, ihrem Freund, einem selbstverständlich geckenhaften Kunstsammler, den Laufpass zu geben, während Olsen den stillen Beobachter spielt. Einiges könnte bereits in dieser Szene falsch laufen, wenn sich der schweigsame Außenseiter Viviennes gelbe Rose ins Knopfloch steckt. Doch Mortensen versteht es, die Genrekonventionen stets sanft gegen den Strich zu bürsten: Nicht der Held erobert das Blumenmädchen, sondern die selbstbestimmte Frau entscheidet sich für den Mann, der in einer schäbigen Holzhütte in Nevada mit toten Mäusen lebt. „Das ist es? Du lebst wie ein Hund!“
Natürlich verwandelt sich die Wüste unter ihren Händen bald in ein kleines Paradies, doch einer Frau wie Vivienne sind der Frontier-Mythos und der Vormarsch der sogenannten Zivilisation ziemlich egal. Und Olsen ist kein Mann, dem etwas am Fortschritt und an der Gemeinschaft liegen würde. „So wenig wie möglich“ möchte er an diesem verlassenen Ort machen. Als er kurze Zeit später in den Bürgerkrieg zieht, rechtfertigt er das zwar mit dem Kampf gegen die Sklaverei, aber man merkt ihm auch Abenteuerlust an. Als er Vivienne beim Abschied um ihre Hand bittet, heiratet sie ihn nicht. „Du bist das Meer für mich“, sagt er. „Scheiß auf das Meer“, antwortet sie. Und wenn er schließlich in seiner Uniform davonreitet, blickt sie ihm lange nicht hinterher. Bis die Kamera sich um sie zu drehen beginnt und man im Hintergrund die halb fertige Scheune sieht, die ihr Olsen als Erinnerung zurücklässt.
Mit Olsens Abschied für mehrere Jahre, in den Krieg, den man nie zu sehen bekommt und für den sich weder Vivienne noch die Leute in der nahen Kleinstadt Elk Flats interessieren, beginnt sich die Lage zuzuspitzen. Im Saloon, wo Vivienne nun als Aushilfskraft arbeitet, versammelt sich das klassische Personal: der mächtige Großgrundbesitzer, der mit seinem Kapital die Stadt beherrscht, sein gewalttätiger, sadistischer Sohn, der die Mexikaner hasst und den Klavierspieler wegen einer falschen Melodie verprügelt, und der opportunistische Bürgermeister, der überall seine gierigen Finger im Spiel hat. Bei Olsens Rückkehr ist jedenfalls nichts mehr so, wie es war. Die Pflanzen in den Beeten sind gewachsen, der dünne Baum vor dem Haus hat Äste bekommen, doch die Freude ist zurückhaltend. „Wie war dein Krieg?“, will Vivienne wissen. Lange sitzen sich Mann und Frau dann schweigend am Tisch gegenüber.
Wie bereits in seinem Regie-Debüt, dem sich ebenfalls auf verschiedenen Zeitebenen entwickelnden Vater-Sohn-Drama Falling, beweist Mortensen Gespür für rhythmisches Erzählen: Während sich Olsen in einer Rahmenhandlung nach seiner Rückkehr zum Pazifik aufmacht („Du kannst das Meer nicht besitzen“) und sich zum einzigen Mal so etwas Ähnlichem wie einem Kampf stellt, wirkt Viviennes als Rückblick erzählte Geschichte wie das eigentliche Fundament dieses Films.
Es gibt in The Dead Don’t Hurt keine ungewöhnlichen Einstellungen, keine überraschenden Perspektiven. Im Grunde nicht einmal eine unerwartete Wendung in der Erzählung. Die große Qualität des Films liegt in seiner Zurückhaltung, etwa in seinem unaufdringlichen Score, den ebenfalls Mortensen komponiert hat und der an die späten Regiearbeiten von Clint Eastwood erinnert, der es sich ebenfalls nicht nehmen ließ, selbst ein paar Klaviertöne zu einer Filmmusik zu verknüpfen. Einzig im Saloon kann mal einmal O Give Me a Home by the Sea von E. A. Hosmer und Treue Liebe von Friedrich Wilhelm Kücken hören. Zwei Melodien als bittersüße Kommentare.
Wer bis zum Abspann wartet, kann übrigens lesen, dass sich für die Rolle des Ritters Mortensen und Krieps die Rüstung angelegt haben. „Wie versprochen bin ich zurückgekehrt“, sagt dieser dann auf Französisch, als er vor dem Mädchen niederkniet und das Visier öffnet. „Einige Momente im Leben vergessen wir nie. Sie leuchten zunehmend heller, je mehr Zeit vergeht.“ Das könnte auch auf diesen Film zutreffen. Mit dem roten Schal des Mädchens wurde sein Vater, ein Frankokanadier, von den Briten aufgeknüpft.
The Dead Don’t Hurt Viggo Mortensen USA/Mexiko/GB 2023, 129 Minuten