
Sie machen Musik wie ein junger Oscar Wilde mit Netflix-, Comic- und „Texte zur Kunst“-Abo. Auf ihrem neuen Album „Golden Years“ ist der Tod allgegenwärtig. Was diese deutsche Band auch nach 32 Jahren besser macht als der Rest, merkt man, wenn man sie trifft. Was Passivismus ist, erfährt man auch.
Bei aller Scheußlichkeit, die schon immer da war und immer da sein wird, sehe ich so viel Schönes. Ich höre Kinder lachen, ich rieche den Teig von Brötchen. Ich sehe Blumen und sich küssende Paare. Eine Frau, die einem Obdachlosen einen Zehn-Euro-Schein in die Hand gibt und ihn umarmt. Ich sehe ein Bild einer Malerin. Ich sehe Menschen, die nicht perfekt sind, aber es doch eigentlich gut meinen. Und ich höre Musik, wie „Golden Years“, das neue Album der Band Tocotronic.
Der erste Song heißt „Der Tod ist nur ein Traum“. Auf einer Akustikgitarre werden hallende Akkorde angeschlagen. Im Hintergrund ist ein Rauschen wie aus einem Blätterwald im Nebel. Eine E-Gitarre spielt sanften Ambiente-Noise. Es sind die letzten Töne des wegen Krankheit aus der Band ausgeschiedenen Gitarristen und Klangforschers Rick McPhail. Er machte das Power-Trio Toctronic vollkommen. Er ließ die Band träumen und gab ihr eine mystische Tiefe wie aus Twin Peaks. Klänge schwollen und dräuten. Unheimlich und unheimlich schön.
Und jetzt brummt Dirk von Lowtzow die ersten Zeilen des neuen Albums. Er spricht sie mehr, als dass er sie singt. Sein schöner Bariton ist der Vorbote des beginnenden Herbsts der Band. Die ersten Worte sind ein verzweigtes Verweis-Myzel. „Du und ich, wir finden nicht/ Wir suchen nur, was uns entspricht“. Pablo Picasso sagte einst „Ich suche nicht – ich finde“ und Marcel Duchamp drehte es einfach um.
Als es noch kalt und dunkel im alten Jahr war, traf ich die Band in Berlin. Sie saßen da in einem Zimmer ihrer neuen Plattenfirma Sony. Dieser Kontrast war ganz komisch: Da geht man unten an die Rezeption, wo alles so auf Ecstasy ist wie in den Neunzigern, die Möbel, die bunten jungen Menschen am Empfang, das Chrom, das Glas, die sterile Wischbarkeit spiegelnder Oberflächen und dann trifft man oben im Besprechungssaal Tocotronic, drei Männer im Best-Ager-Alter, in Bootsschuhen, Schnürstiefeln und Chelsea Boots, mit Grau in den Haaren, den zweiten Falten und Zähnen, aber ganz jungen Augen.
Seit über dreißig Jahren machen sie jetzt Musik zusammen. Und von Lowtzow sagt über das Songschreiben mit Schlagzeuger Arne Zank und Bassist Jan Müller: „Die beiden sind das Lektorat. Aus den Asterix-Comics kennen wir Troubadix. Er selbst hält sich für genial, andere halten ihn für unerträglich. Und dieser Eiertanz des Austarierens, um am Ende gemeinschaftlich einen guten Song zu schreiben, das ist unsere Arbeit.“ Ausgehend von der ersten Zeile des Albums kann man aus den Worten von Lowtzows die Erfolgsformel Tocotronic so zusammenfassen: Tocotronic = Picasso x Duchamp x (von Lowtzow / Zank und Müller).
Trotz der Heiterkeit von Comic-Verweisen und der eingedeutscht warholesquen Campiness von Wörtern wie „Eiertanz“ steckt in Tocotronic eine alles durchdringende melancholische Tiefe. Der Tod ist omnipräsent auf „Golden Years“. „Bleib am Leben“ heißt ein Stück. Im Americana-haften Slackerrockstück „Denn sie wissen, was sie tun“ geht es um gefährliche Menschen, die man bekämpfen muss. „Aber niemals mit Gewalt/ Wenn wir sie auf die Münder küssen, machen wir sie schneller kalt“ singt von Lowtzow dort. Natürlich bezieht er sich auf Dostojewskis „Großinquisitor“, aber man denkt natürlich auch an den Kuss eines Dementors aus Harry Potter, und natürlich an den Judas-Kuss aus der Bibel.
Und da fällt auf, dass „Golden Years“ das bisher biblischste Album der Band ist. Dabei ist die Band natürlich nicht religiös. Bassist Jan Müller sagt über sich und den Schlagzeuger: „Arne Zank und ich haben gemeinsam den Konfirmationsunterricht abgebrochen.“ Pause. Dann: „Aber Arne hat trotzdem was geschenkt bekommen.“ Trotzdem scheinen christliche Motive auf dem ganzen Album hervor. Das Stück „Ein Rockstar stirbt zum zweiten Mal“ kann man als gaga-Jesus-Verklärung verstehen. Von Lotzow ordnet es so ein: „Ein Rockstar ist wie Daffy Duck ein Cartoon-Charakter, der mit theatralischer Lächerlichkeit von der Klippe springt.“ Kann man despektierlich natürlich auch über Gottes Sohn sagen. Und dann sind da noch Stücke wie „Vergiss die Finsternis“ oder „Der Seher“, in dem es heißt: „Ich bin ein unvollkommenes Traumgespinst/ Ein umwölktes Menschenkind“ Das ist historistische Sturm-und-Drang-Lyrik als intellektueller Gag der Postmoderne.
Tocotronic arbeiten schon Jahrzehnte daran, diese herrliche Travestie zwischen Affektiertheit und Erdung zu perfektionieren. Sie machen Words and Music wie ein junger Oscar Wilde mit Netflix-, Lustigem-Taschenbuch- und Texte-zur-Kunst-Abo. Es ist die größtmögliche Albernheit ernsthaft gut umgesetzt. Die besten und traurigsten Tragödien sind schon seit Shakespeare immer Komödien gewesen. Pseudoernsten Kitsch kann fast jeder schreiben. Ein guter Witz gelingt nur den wenigsten. Einen Mensch zum Lachen zu bringen, ist die tiefste Form der Menschenliebe.
Jetzt gibt es sie also schon über 30 Jahre. 1995 sang Arne Zank das Stück „Es ist einfach Rockmusik“. Da hieß es: „Für mein Alter bin ich ganz schön altklug, sagen sie“. Und das waren sie auch damals. Heute sind sie junge Hunde, so wie die Künstler Gilbert und George, die inzwischen über 80 Jahre aber viel verspielter und unverkrampfter sind, als die jungen Menschen, die Kunst und Aktivismus verwechseln.
Tocotronic haben auch immer aktivistische Tendenzen gehabt. Sie kommen aus dem linken bis linksradikalen Punk-Milieu. Aber sie haben die Militanz bewusst für die Kunst hinter sich gelassen. Eindeutigkeit ist der Tod guter Kunst. Tocotronics Songs sind offener und vielschichtiger denn je. Sie sind nicht nonbinär, sie sind metaphysisch vielgeschlechtlich. Von Lowtzow sagt: „Viele Künstler*innen sagen heute, sie seien Aktivist*innen. Aber ich glaube, künstlerisch muss man Passivist sein und den Mut haben, Dinge mit sich geschehen zu lassen.“
Eindeutige Kunst lässt nur eine Lesart zu. Eindeutige Künstler sind herrische Zuchtmeister und strafende Götter, die nur eine Lesart erlauben. Vielschichtige Künstler lassen ihre Stücke frei. Sie lassen dem Menschen den freien Willen.
Frédéric Schwilden ist Autor im Politik-Ressort. Er interviewt und besucht Dorf-Bürgermeister, Gewerkschafter, Transfrauen, Techno-DJs, Erotik-Models und Ministerpräsidenten. Er geht auf Parteitage, Start-up-Konferenzen und Oldtimer-Treffen. Sein Roman „Toxic Man“ ist im Piper-Verlag erschienen.
Source: welt.de