Wenn mal wieder alle Räder stillstehen:: Musik für Bahnhöfe

Von Jimi Hendrix lernen: Warten als Messianismus

Die Lautsprecher knacken, die Hoffnung am Gleis steigt. Kommt jetzt die ersehnte Ansage – werde ich heute noch abfahren, oder gar ankommen? Etliche Blues-Songs thematisieren die Ankunft eines mysteriösen Zuges, so auch Hear My Train A Comin’ von Jimi Hendrix, den er schon 1967 – drei Jahre vor seinem Tod – erstmals aufnahm und der 1973 veröffentlicht wurde.

Die Ankunft einer Erlösung auf Schienen, die wartende Passagiere abholt, wird in den Kulturwissenschaften gern als Metapher für das christliche Warten auf den Messias verstanden. In dieser Form sollen afroamerikanische Sklaven ihre Sehnsucht nach einem Sinn und einem Ende ihres Leids in Folk-Songs besungen haben. Hendrix kannte die Überlieferungen und goss sie mitsamt seinem typischen, herausragenden Gitarrenspiel in ein Stück. Weil er auf direkte christliche Anleihen verzichtete, kann diesem Song auch etwas abgewinnen, wer nichts mit Jesus am Hut hat.

Tröstlich, wenn gar nichts läuft: Mancher hat in der Menschheitsgeschichte schon sein Leben lang gewartet, auf etwas, das vielleicht nie eintrat. Das rückt das Gemüt zu jeder Wartezeit ordentlich ins Verhältnis. Was sind schon ein paar verlorene Stunden im Untergeschoss des Berliner Hauptbahnhofs – gegen ein Leben in Unfreiheit?

Hear My Train A Comin’ Jimi Hendrix (1967/1973)

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Alanis Morissette wusste: An bestmöglichen Tagen kann trotzdem alles schiefgehen

Auch wenn oft über die Kanadierin Alanis Morissette gespottet wurde, sie hätte bei diesem Song das Konzept von „Ironie“ nicht verstanden (ein Mensch stirbt, einen Tag nachdem er im Lotto gewonnen hat – ironisch, oder tragisch?), ist ihre zusammenhanglose Auflistung ungünstiger Umstände die perfekte Entsprechung auf das Erlebnis Bahnfahren dieser Tage. Gerade wenn alles gutzugehen scheint – rechtzeitig am Bahnsteig, Zug kommt pünktlich an, Sitzplatz sofort gefunden –, tritt „das Schicksal“ zur Sicherheit noch mal nach und verpasst einem einen schönen, heiß brennenden Kaffeefleck.

Wenngleich Morissettes Lyrik nicht den literaturwissenschaftlichen Kriterien der naserümpfenden Kritiker*innen genügte, so sprach sie doch zu Millionen Menschen eine eindeutige Sprache: „Wie Regen am Hochzeitstag“, klar, ironisch ist das nicht, aber dennoch eine universell verständliche, kollektiv nachvollziehbare Erfahrung – wenn’s einmal gerade gut läuft, steht ein Drama oft schon vor der Tür. Morissette wusste daraus einen wichtigen Umkehrschluss zu ziehen: „Das Leben pirscht sich manchmal komisch an, das Leben hilft dir manchmal auf komische Art und Weise.“ Irrfahrten sind die, die im Gedächtnis bleiben.

Ironic Alanis Morissette (1996)

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Future Islands machen Gelassen: Manche Leute ändern sich nie

Manch Reise wäre weniger beschwerlich, würde sich nicht laufend jemand beschweren. Streits über Reservierungen, nervige Telefonierer, der süßsaure Duft einer fettigen Wurststulle vom Sitz gegenüber. Meckern? Klar, kann man machen. Ändert’s was? Meistens nicht, höchstens den Blutdruck der Beteiligten.

Nicht nur eignet sich der träumerische Sound des Synth-Pop-Songs Seasons der amerikanischen Band Future Islands hervorragend zum melancholischen Blicke-schweifen-Lassen über triste deutsche Landschaften zu jeder Jahreszeit, er transportiert auch eine Botschaft, die über das Bahnfahren weit hinausgeht, aber insbesondere Reisenden ein Trost sein könnte: Manche Leute ändern sich nie, und wenn sie’s doch tun, dann hat das immer seinen Preis.

Im Zuge kurzer stochastischer Begegnungen wird es einem nur mit viel Glück und Geduld gelingen, fundamentale Verhaltensänderungen zu provozieren. Das ist ärgerlich, aber auch tröstlich, denn: Wenn sich Menschen nicht verändern, kann man den Versuch auch reinsten Gewissens bleiben lassen. Außerdem: Sicher, dass man selbst nie der Störenfried ist? Was für ein nerviger Junggesellenabschied, was für eine schöne Landschaft!

Seasons (Waiting on You) Future Islands (2013)

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Otis Redding von früh bis spät: Zeit verschwenden kann so schön sein

Zeit zu verschwenden, ist ärgerlich, aber überhaupt Zeit zu haben, die man verschwenden kann, ist ein Privileg. Der Zug steht still, Tiere, Menschen oder Technik verhindern die Weiterfahrt. Zeitrahmen: unbestimmt. Jetzt bloß nicht nervös zum Serviceabteil rennen. Beeinflussen lässt sich das eh nicht. Genauso gut kann man die plötzlich vom Himmel gefallene Lebenszeit für etwas nutzen, das man sonst nie tut. Nichts, zum Beispiel.

(Sittin’ On) The Dock of the Bay gilt nicht ohne Grund als einer der besten Popsongs aller Zeiten. Otis Redding gibt sich in diesem unermesslich gefühlvollen Song der Unveränderlichkeit der Dinge einfach hin: Nichts funktioniert, also kann man genauso gut in sich ruhen, „in der Morgensonne sitzen“, bis die Abendsonne kommt. Gut, es sitzt sich sicherlich netter an einem Bootssteg in Kalifornien mit den Füßen im Wasser als im IC-Abteil mit ausgefallener Klimaanlage zwischen Wiesloch-Walldorf und Bruchsal. Aber: Es sind seltene Momente geworden, in denen einem das Leben keine andere Wahl lässt, als sich für einen Moment nur mit dem Moment zu beschäftigen. Oder sich die Zeit zu nehmen, um Musik endlich mal wieder ganz bewusst und nicht nur nebenbei zu hören. Wer uns dieses Geschenk macht? „Grund dafür ist die Verspätung eines vorausfahrenden Zuges.“

(Sittin’ On) The Dock of the Bay Otis Redding (1967)

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Halten wir es mit Fugazi: Dann muss jetzt eben der Fahrplan brennen

Punk-Legende Ian MacKaye, der mit Minor Threat und Fugazi eine ganze Subkultur bewegte, schrieb mit 26 Jahren einen Song über das Warten auf den richtigen Moment: die sich aufbauende und wieder abflauende Spannung dabei, die diffuse Nicht-Stimmung, die ein Zögern auslösen kann, die Aggression, die sich unvermeidlich anstaut und nach Freisetzung verlangt. Das sind Gefühle, die Bahnreisende nur allzu gut kennen dürften, und Punkrock erteilt ihnen eine wichtige Lektion: Ja, vieles lässt sich ertragen, manches zerdenken, aber all das hat Grenzen: „Alle sind immer unglücklich, sag mir warum? Weil sie nicht aufstehen können!“

Herr über das eigene Leben zu sein, bedeutet auch, sich von unsichtbaren Händen, Ordnungen, Regeln und Systemen nicht alles vorschreiben zu lassen. Das mag – genau wie Fugazi – für manche Ohren nach wütiger Teenagerprosa klingen, aber ist es nicht trotzdem wahr? Ausstieg, Umstieg, letzter Halt, früheste Abfahrt: Manchmal ist der Takt an sich schon ein Verbrechen, sorgsam verordnete Mobilität, gebaut auf Erwartungen von anderen: morgens zur Arbeit, abends nach Hause. Schluss damit! Wenn der richtige Moment gekommen ist, muss der Fahrplan eben brennen. Dann steht man lieber auf – und geht zu Fuß. Wohin auch immer, Hauptsache selbst.

Waiting Room Fugazi (1988)

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