Die Ausstellung „Roads not Taken“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin versucht es mit spekulativer Geschichtsschreibung. Wie funktioniert das Experiment?
In der Literatur oder im Film immer wieder ein Erfolgsgarant: spekulative Geschichtsschreibung. Laurent Binets Roman Eroberung über die gewaltsame Landung der Inkas im Europa des 16. Jahrhunderts oder Michal Hvoreckýs Tahiti Utopia über die Auswanderung des slowakischen Volkes auf die südpazifische Insel in den 1920er Jahren etwa hatten in den letzten Jahren ein größeres Publikum von der historischen (Un-)Wahrscheinlichkeit ihrer Geschichten überzeugen können. Das richtige Gleichgewicht von Plausibilitäten und spekulativem Wagemut ist bei solchen Werken darüber entscheidend, als wie überraschend die Einfälle zu einer (Welt-)Geschichte, die auch anders hätte verlaufen können, wahrgenommen werden.
Interessanterweise scheint es sich auf dem Feld der Geschichtsschreibung genau andersherum zu verhalten: Erforschte Geschichte erscheint voller überraschender – je nach Perspektive tragischer oder glücklicher – Wendungen. Historische Wendepunkte, die verhindert oder abgewendet wurden, erscheinen hingegen aus geschichtswissenschaftlicher Sicht oft merkwürdig blass, Spekulation gerät hier allzu schnell in den Bereich des Fantastischen.
Es ist dieses Dilemma, das das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin dazu veranlasst, seine jüngst eröffnete Ausstellung Roads not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können ein Experiment zu nennen. Angestoßen durch eine Idee des deutsch-israelischen Historikers Dan Diner und geleitet durch dessen Konzeption wird hier über zwei Jahre hinweg anhand von 14 Zäsuren der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (in umgekehrter Reihenfolge: 1989 bis 1848) diskutiert, wie sich diese historischen Einschnitte auch anders (oder gar nicht) hätten ereignen können: Hitlers Machtergreifung, die Rolle Deutschlands beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die Märzrevolution. Die Frage nach „real bestandenen Möglichkeiten“ (Diner) treibt diese Ausstellung um, die in ihrer Art für ein Haus wie das DHM tatsächlich neu ist.
Fakt und Fiktion
Wie zeigt man aber, was es nicht gab, zumal, wenn man hierfür zwar die Grenze zwischen Fakt und Fiktion beschreiten muss, das Ausstellen von „Alternativen Wirklichkeiten“ aber weit von sich weist?
Unter den vielen ausgestellten Exponaten sind es nur wenige, die es den Ausstellungsmacher*innen leicht machen: Stolz verweist das KuratorInnenteam (Julia Franke, Stefan-Paul Jacobs, Lili Reyels) unter Leitung von Fritz Backhaus auf den bereits geprägten Doppelgulden von 1849, mit dem die Stadt Frankfurt am Main die dann nicht erfolgte Wahl König Friedrich Wilhelms IV. zum deutschen Kaiser voreilig manifestieren wollte, auf eine Sitzgruppe aus dem zur Sicherheit des Bundespräsidenten gedachten Atombunker in Bonn oder auf ein Transkript der für den Fall eines Angriffs auf die Bundesrepublik durch die „sowjetzonale Volksarmee“ für den Bundespräsidenten bereitgestellten Rede an die „lieben deutschen Landsleute diesseits und jenseits der Demarkationslinie“.
Unter den rund 500 Ausstellungselementen bleiben solche Fundstücke jedoch die absolute Ausnahme – was im wahrsten Sinne des Wortes den historischen Umständen geschuldet ist. Vielmehr müssen viele Texte und Grafiken und vor allem die vom Berliner Büro chezweitz konzipierte museale Szenografie mit bisweilen dramaturgisch wirkenden Details nicht Geschehenes sichtbar machen.
Gleich bei der ersten Station zum Jahr 1989 hilft die Gestaltung der historischen Unwirklichkeit nach: Das ausgestellte Demoschild mit der Aufschrift „Achtung! Krenz Das ist der himmlische Frieden“ vom Ost-Berliner 4. November 1989 – der damalige Generalsekretär des ZK der SED hatte die gewalttätige Niederschlagung der Protestbewegung in China gelobt –, hätte auch im Fall einer eingetretenen „chinesischen Lösung“ seine Berechtigung als Exponat eines historischen Museums. Um diesen Effekt zu verstärken, wird ein Bild dazugestellt, das je nach Standort der Besuchenden im Raum entweder die Menschenmenge auf der Berliner Mauer oder den berühmten Pekinger „Tank Man“ zeigt, der sich auf dem Platz des Himmlischen Friedens vor einen Panzer-Konvoi gestellt hatte. Das ist plakativ, zeugt so aber auch von den museumsdidaktischen Schwierigkeiten, hier Komplexität und Kontingenz bildlich zu verknüpfen.
An anderer Stelle ist Felix Nussbaums Gemälde Triumph des Todes (Die Gerippe spielen zum Tanz) von 1944 zu sehen – das letzte Bild des jüdischen Künstlers vor seiner Deportation nach Auschwitz und dortigen Ermordung. Es ist einem großformatigen, toten Raumwinkel mit der Aufschrift „Zu spät!“ gegenübergestellt. Ein Begleittext verweist darauf, dass zum Zeitpunkt des Attentats auf Hitler 1944 der Holocaust „im Wesentlichen bereits vollzogen“ war – eine fragwürdige Formulierung angesichts derer, die erst nach diesem Zeitpunkt ermordet wurden – und dennoch gleichzeitig ein wichtiger Verweis darauf, dass die Frage danach, wie Geschichte nicht stattgefunden hat, gleichzeitig auch immer die Frage danach ist, für wen sie wie stattfand.
Roads not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können Deutsches Historisches Museum, Berlin, bis 24. November 2024
Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.