Wen, wo, wie und „Was ihr wollt“

Regisseurin Anne Lenk wendet Shakespeares musikalischste Komödie zum Start der neuen Intendanz am Thalia Theater unter Sonja Anders mit einem starken Ensemble in ein Plädoyer für Queerness und freie Liebe. Das Publikum feiert den Abend auch als politisches Statement.

Viola küsst Olivia, Orsino seinen Narren, Antonio küsst Sebastian, Iggy ihre Poppy und last but not least küsst Maria ihren Malvolio. Der Paarungstanz am Ende von „Was ihr wollt“ frei nach Shakespeare kennt auf der Bühne des Thalia Theaters nur Gewinner in lesbischen und schwulen Liebespärchen. Regisseurin Anne Lenk dreht den alternativen Reigen aber noch weiter. Aus den Paaren in einer Reihe macht jeder einen Schritt zum nächsten und küsst weiter. So wechseln die lesbischen und schwulen Konstellationen plötzlich mit heterosexuellen Kusspaaren ab. Und noch ein Kuss, und noch ein Kuss. Und Schluss.

Wo die Liebe hinfällt

Das Bild der freien Liebeskonstellationen nach dem Motto „wo die Liebe hinfällt“ ist ein klares Statement für individuelle und autonome Entscheidungen, für die persönliche Freiheit in Zeiten der ihrer Bedrohung durch rechtsradikale Strömungen in Politik und Gesellschaft. Diese Komödie zum Start der ersten Saison unter der neuen Intendantin Sonja Anders ist ein politisches Statement – so wie die Liebe politisch ist, was in finsteren Zeiten stärker ins Gewicht fällt. Regisseurin Lenk: „Die allumfassende Liebe ist eine Bedrohung für Profit, Ausgrenzung.“ Trotz des neuen Endes, das eindeutig nicht von, sondern frei nach William Shakespeare den Weg auf die Bühne findet, bleibt der Abend insgesamt dem anarchistischen Geist des britischen Barden verpflichtet – und macht großen Spaß.

„Was ihr wollt“ ist Shakespeares lustigstes reines Lustspiel. Es quillt über von Liebesprojektionen, ausgelöst durch Triebe der Natur, die an ihrem Schauplatz Illyrien reichlich sprießen. Ansonsten liegt das Land, an dessen Strand das Prinzenzwillingspaar Viola und Sebastian gespült wird, irgendwo zwischen Wachen und Traum, zwischen Realität und Utopie, zwischen analoger und virtueller Welt. Vom Alltag befreit geht es in diesen Landen ausschließlich um Liebe, Jux und Tollerei. Und auch bei Shakespeare schon hat Antonio (Denis Grafe), der Sebastian (Samuel Mikel) aus dem Meer fischt, homosexuelle Neigungen. Fürstin Olivia hingegen ist ebenfalls schon im Original lesbisch.

Der Narr ist die einzige vernünftige Person

Der Plot wirkt eher wie Kompott. Handlungen, ausgelöst durch Begierden, genährt durch Trauer, verlaufen im Sande, werden wieder aufgenommen, erfahren unwahrscheinliche Wendungen und lösen sich schließlich, kurz bevor sie in Gewalt kippen, in Wohlgefallen auf. So wirkt Illyrien unabhängig von seinem Status auf der Landkarte wie eine Insel in einem Meer dunkler Bedrohungen.

Viola und Sebastian überleben ein Schiffsunglück und werden gerettet – allerdings, ohne voneinander zu wissen. Viola wird bei Shakespeare von einem Schiffshauptmann gerettet, bei Lenk vom Narren (Tim Porath), der einzigen vernünftigen Person im ganzen Stück. Porath turnt in einer hinreißenden Performance den ganzen Abend mit kluger Distanz, komisch verspielt um die Liebeskranken herum, den Pulk seiner irren Mitbürger.

„Tutti Frutti“ und Neue Deutsche Welle

Die Verschmelzung von Figuren spart Personal, die Verluste sind zu verkraften. Lenk macht zehn Darsteller aus ursprünglich 14 und firmiert um. So wird der Inbegriff blöder Männlichkeit, Junker Tobias von Rülp, bei Lenk zu Iggy, einer Nichte der Fürstin Olivia, dem Inbegriff dämlicher Weiblichkeit, begleitet von ihrer Freundin Poppy (ursprünglich Junker Christoph von Bleichenwang), ihrer Saufkumpanin. Beide werden als Zecken am Hofe Olivias geduldet, wo sie mit „Tutti-Frutti“-Partys über die Stränge schlagen.

Eine große Stoffpflaume, eine überdimensionale Aprikose und eine aus der Höhe herabhängende halbvertrocknete Weintraubenrebe verdeutlichen ihr Niveau der sexuellen Anspielungen. Auf musikalischer Ebene finden die Dekorationselemente ihr Pendant in Zitaten der Neuen Deutschen Welle, von Trios „Da Da Da“ bis zu Falcos „Der Kommissar“. Ganz groß raus kommt Orsino-Darsteller Jannik Hinsch, der auf einer Wellenmelodie Shakespeares Textzeilen zu neuen Songqualitäten verhilft, die in einer Art Musicalsatire mündet.

Treppenhausorchester macht Musiktheater

Der Abend ist nicht nur Komödie, er ist durchweg auch starkes Musiktheater. Dafür sorgt das ins gewaltige Bühnenbild aus alten Klavieren implementierte Treppenhausorchester aus Hannover (Bühne: Judith Oswald) mit sieben Live-Musikern. Sie spielen Kompositionen von Kostia Rappaport. Die sind zum einen Soundtrack der Handlung lassen sich der Funktion von Filmmusik vergleichen, zum anderen tragen sie selbst konstituierend und kommentierend zur Atmosphäre des Abends bei.

Das Ensemble spielt in den fantasievollen Kostümen, die den fantastischen Charakter des Spielorts präsent halten und als Bindeglied zwischen Bühnenbild und Handlung fungieren (Kostüme: Sibylle Wallum), durchweg auf hohem Niveau. Um Porath herum drehen neben den bereits erwähnten Dartstellern durch oder ab: Rosa Thormeyer als burschikose Iggy an der Seite der hechelnden Poppy von Nina Sarita Balthasar. Extrem biegsam und selbstherrlich fällt Jeremy Mockridge als Olivias Haushofmeister Malvolio seinen Gegnern zum Opfer.

Queerness schützt nicht vor schlechtem Charakter

Dem Spießer Malvolio wird übel mitgespielt, was zeigt, dass Queerness nicht vor schlechtem Charakter schützt. Dabei hat er nur damit gedroht, das Wlan-Passwort zu ändern, als eine Party von Iggy und Poppy aus dem Ruder lief. Damit kommen die Digital Natives natürlich überhaupt nicht klar. Seine Gegnerin am Hofe Olivias, Maria, schreibt also den berühmten, fingierten Liebesbrief an ihn, der vorgeblich von ihrer Herrin stammt und in dem sie seltsame Handlungen als Liebesbeweis einfordert. Malvolio erbringt sie und wird unverzüglich inhaftiert.

Nur oberflächlich schlicht bleibt die Viola von Gloria Odosi. Kaum gerettet, verkleidet sie sich als Mann und begibt sich an den Hof Orsinos, um Olivia auszustechen, hat sie erst sein Vertrauen errungen. Gnadenlos, doch vorsichtig wie eine Undercover-Agentin in ständiger Sorge um ihre Tarnung, verfolgt sie ihr Ziel. Ihr Pech, dass Olivia sich in sie verliebt, wendet sie in ihr Glück. Franziska Machens ist ganz die stolze Gräfin Olivia, die Männer aus guten persönlichen Beweggründen auf Abstand hält – wie andererseits aus Statusgründen ihre verkommenen Nichten, die sie lediglich duldet. Da muss schon die Königstochter Viola kommen, bis ihr Herz aus Eis schmilzt. An dieser Stelle wird in der Inszenierung die gesellschaftliche Entwicklung vom 17. Jahrhundert bis heute spürbar – öffentlich waren familiäre und traditionelle Bindungen schließlich seinerzeit absolut bindend.

Papst Leo Francis Bang Bang der Zweite greift ein

Prächtig gerät die Szene, in der Tim Porath als Narr sich als Papst Leo Francis Bang Bang der Zweite ausgibt und dem inhaftierten Malvolio, der ihn nicht sehen kann, die Leviten liest. Schließlich hat der arme Tropf sich, die Gräfin begehrend, über alle weltlichen und geistlichen Gesetze gestellt. Ein Pfeiler im Ensemble ist Oda Thormeyer als Maria, die über erstaunliche Kampfkraft und kühle Kälte verfügt, die sie am Hofe Olivias nutzt, um das Gleichgewicht des Schreckens zwischen Malvolio einerseits und den Nichten andererseits aufrechtzuerhalten. Nachdem sie den Haushofmeister ins Unglück stürzte, fühlt sie sich zum Schluss wohl schuldig und nimmt ihn aus Mitleid. Ein Anfang.

Termine: 20., 26. September, 3., 4., 7., 28. Oktober

Source: welt.de

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