Weltliteratur | Ein Kontinent aus Knochen: Gustavo Faverón Patriaus Roman „Unten leben“ erzählt davon

Irgendwo in der Calle Simón Bolívar in der chilenischen Hafenstadt Valparaíso liegt verborgen das Lager der Buchhandlung Armas Antárticas. Miroslav Valsorim, halb Rumäne, halb Jugoslawe, betreibt seit den 1960er Jahren eine gleichnamige Bücherei in Santiago de Chile, seine vom Balkan geflohene Geliebte, eine Partisanin, trug ihm auf, mit ihren Drillingen dort auf sie zu warten.

Die Frau seines Herzens tauchte nie wieder auf, doch der „trübsinnige, aber im Grunde glückliche Serbe“ entdeckte die Literatur für sich, der er sich fortan ganz verschrieb; nicht nur als Buchhändler, sondern auch als Herausgeber einer mysteriösen Romanreihe, die als das Archiv der unaufhörlichen Romane durch Gustavo Faverón Patriaus deutsches Debüt spukt.

Zu den ersten Leser:innen dieser über einhundert Romane gehört das Ehepaar Richards, das in der amerikanischen Kleinstadt Brunswick, Maine, lebt. Dort schrieb Harriet Beecher einst ihren berühmten Roman Onkel Toms Hütte. Das hat zwar nichts mit der Geschichte um Clay und Laura Richards zu tun, ist aber eine der unzähligen literarischen Anspielungen, die man in Patriaus Epos Unten leben entdecken kann.

Abenteuerlich-kafkaesken Werke tauchen auf

Weltkriegsveteran und Ornithologe Clay Richards erhält von einem Tag auf den anderen regelmäßig dicke Briefumschläge, in denen sich die Manuskripte Dutzender unveröffentlichter Bücher befinden. In kurzen Absätzen werden diese abenteuerlich-kafkaesken Werke beschrieben, die so illustre Titel wie Das piamontesische Gefängnis, Die künftige Eva oder Eine bolivianische Rache tragen. „Einige Romane waren gut, andere schlecht, wenige waren wirklich Unfug, ein paar wunderbar“, so das Urteil der ersten Leserin Laura Richards.

Wirklich überwältigend sei Roman 52, der von einem Jungen handelt, „dessen Vater ein Folterer war und der nach dem Tod seines Vaters beschließt, alle Opfer zu rächen, aber sogleich bemerkt, dass das unmöglich ist, denn die einzige Rache wäre gewesen, den Vater zu töten, der schon tot war“. Mrs. Richards liest diese Geschichte, als ihr ein Junge aus der Nachbarschaft erzählt, dass sein Vater jemanden im Keller angekettet hält.

Sofort bringt sie den Roman mit dem Jungen in Verbindung, liest ihn als Fährte, „als etwas, das Licht in eine dunkle Zone der realen Welt“ brachte. Gut möglich, dass wir genau diese Geschichte in der Hand halten.

Endlich kann man Patriau hierzulande entdecken

Unten leben ist der zweite Roman des peruanischen Schriftstellers Gustavo Faverón Patriau, der in der spanischsprachigen Welt längst als einer der ganz Großen gilt. Als Professor für lateinamerikanische Literatur hat er eine Anthologie über das Werk von Roberto Bolaño herausgegeben. Sein literarisches Debüt El Anticuario, die vertrackte Geschichte eines Verbrechens, ist 2010 erschienen und schlug sofort hohe Wellen.

Im Frühjahr stand er mit seinem gerade erschienenen dritten Roman Minimosca, einer Geschichte von Poesie und Gewalt, auf der Shortlist des renommierten Finestres Award De Narrativa, den der argentinische Nobelpreisanwärter César Aira mit seinem neuesten Dada-Märchen En El Pensamiento gewann.

Nun kann man Patriau endlich auch in Deutschland entdecken. Unten leben, 2018 in Peru erschienen, liegt seit Kurzem in der überaus gelungenen Übersetzung von Manfred Gmeiner vor. In diesem vielstimmigen und verschachtelt erzählten Panorama kommen die Täter hinter den lateinamerikanischen Militärdiktaturen zu Wort: Folterknechte und Sicherheitsbeamte, CIA-Agenten und ausgewanderte Nazis. Aber auch ihre beklagenswerten Opfer: aufgeweckte Studenten und manische Poeten, selbstbewusste (indigene) Frauen und einfache Leute, die die Faschisten als linken Pöbel beschimpften.

Katakomben, Irrenanstalten und unterirdische Gefängnissen

Der Roman beginnt mit zwei Kurzbiografien, die einem Mann namens George Walker Bennett gewidmet sind. Im ersten Porträt wird ein Filmemacher beschrieben, der einige Filme gedreht hat, bevor er durch Lateinamerika reiste. Anfang der Neunziger drehte er in Lima seinen letzten Spielfilm, bevor er für immer verschwand.

Die zweite Vita beschreibt den Sohn eines CIA-Agenten, dessen Vater 1980 einen Mann im Keller des Familienhauses erstach. Nach dessen Verurteilung zu lebenslang floh er nach Paraguay, wo er in den Achtzigern in einem Gefängnis einsaß, bevor er unter falschem Namen in verschiedenen lateinamerikanischen Städten je einen Mord beging und spurlos verschwand.

Beide Porträts gelten der Hauptfigur in Patriaus vielstimmigem Mosaik der düsteren südamerikanischen Geschichte, die sich in großen Teilen in Katakomben, Irrenanstalten und unterirdischen Gefängnissen zuträgt. Wo Menschen gefangen gehalten und „mit Elektroschocks gefoltert, zermalmt, zerstört und pulverisiert“ werden, vor allem im Lateinamerika des 20. Jahrhunderts, durch das dieser ebenso irrsinnige wie kühne Roman führt.

Pinochet, Videla und Co.

Dessen abenteuerliche Erzählung beginnt in einem peruanischen Keller, wo Bennett am Tag, an dem der Anführer der Guerillagruppe Sendero Luminoso gefangen genommen wird, einen skrupellosen Mord begeht. Die Vorgeschichte dieser Tat sowie ihre Folgen bilden das Grundgerüst von Unten leben, einer Art von lückenhafter journalistischer Nacherzählung der Ereignisse.

George W. Bennett, dessen Initialen nicht zufällig an einen amerikanischen Präsidenten erinnern, teilt den Namen mit seinem Vater, der nach dem bestialischen Mord an einem jungen Mann namens Chuck Atanasios zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Der Sohn weiß nicht viel von seinem brutalen Vater, nur, dass er sich nie fotografieren ließ, weil es immer besser sei, „keine Beweise für die Existenz der Vergangenheit zu bewahren“.

Als Filmemacher geht er dessen dunkler Vergangenheit nach. Er reist wie die Hauptfigur in Juan Rulfos Klassiker Pedro Páramo den wenigen Spuren seines Vaters hinterher und dabei durch halb Lateinamerika. Er stößt in Paraguays Hauptstadt Asunción auf zwei ehemalige Polizisten, die ihm vor der Kamera berichten, wie sein Vater unter dem Decknamen Egon Schiele die rechtsextremen Regime von Pinochet, Videla und Co. zu Foltermethoden beraten hat.

Gemeinsam mit Klaus Barbie, dem Schlächter von Lyon, habe er auch den marxistischen Revolutionär Che Guevara im bolivianischen Dschungel aufgespürt und liquidiert. Und Paraguays langjähriger Diktator Alfredo Stroessner habe ihn beauftragt, ein Geheimgefängnis für Tausende politische Gegner zu bauen.

Tief in einen Berg habe er ein dantisches Verlies mit Dutzenden Tunneln gegraben, die wie die Strahlen einer Sonne in zwölf Richtungen abgehen, „auf beiden Seiten Metalltüren, kaum breiter als ein Mensch“. Den entlarvenden Film über diesen Bericht zeigt er bei einem Underground-Filmfestival, woraufhin er festgenommen und für Jahre in die vom Vater errichtete Hölle gebracht wird.

Die Frau, die er liebt, eine Regisseurin namens Raymunda Walsh, gerät wegen eines Films ebenfalls in die Fänge von Stroessners Schergen. Jahre später wird er sie bei einem bolivianischen General ausfindig machen.

Unten leben ist ein literarisches Meisterwerk borgesscher Qualität, das über seine verwinkelte Erzählung über die verheerende Gewalt des 20. Jahrhunderts in die dunkelsten menschlichen Abgründe hinabsteigt. Patriaus Roman ist Horrorgeschichte und Kriminalroman, historisches Epos und Reisebericht.

Mal Tragödie, mal Farce

Dabei schlägt die Handlung eine Brücke von Hitlers Horrorkammern bis zu den US-Lagern im Irak. Darunter fließt der blutige Strom aus den Folterkellern, aus denen in allen grausamen Details berichtet wird. Die Erzählung gräbt sich tief in die traumatisierten Seelen ihrer Figuren hinein und singt von dort ein schauriges Lied.

Durch den Text zieht sich ein düsterer Sarkasmus, „ein hämisches Lachen, wie von Rabelais und Cervantes zugleich“, ohne den diese brutale Geschichte nur schwer zu ertragen wäre. Es ist Manfred Gmeiners furchtloser wie packender Übersetzung zu verdanken, dass man diese bittere Ironie hinter jedem Satz vernimmt.

Jede Geschichte ereignet sich zweimal, einmal als Tragödie und einmal als Farce. Das gilt auch für Patriaus fulminantes Vexierspiel, das ihm Vergleiche mit Roberto Bolaño eingebracht hat. Mit den Mitteln der Literatur formt er einen Kontinent aus Knochen und Schädeln, den man ebenso fassungslos wie fasziniert lesend bereist.

„Die Funktion der Folteropfer ist die einflussreichste Erzählung der Welt“, heißt es darin, „sie verändert die Welt von Tag zu Tag.“ Unten leben macht sich diese Erzählung zu eigen. Patriau setzt den Opfern des autoritären Wahns ein unvergessliches literarisches Denkmal. Und verändert unseren Blick auf die Welt.

Unten leben Gustavo Faverón Patriau Manfred Gmeiner (Übers.), Droschl 2025, 600 S., 34 €

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