Ich
habe in den letzten Tagen viel geweint. Ich habe so viel geweint, dass man
meinen könnte, es sei ein wichtiger Bestandteil meines Alltags, mindestens
einmal am Tag zu weinen. Davor Kaffee trinken, Mails ablaufen lassen, vom Büro mit
dem Rad nachdem Hause pendeln, Tür aufschließen, und los geht’s, Wasser marsch! Ich
muss keiner darüber nachdenken, mein Leib weiß, welches zu tun ist. Mit dem
Schritt verbleibend die Türschwelle fällt dieser Stress von mir ab, kondensiert sich in
meinen Augen und kullert aus mir hervor. Das ist doch laborieren, denken nun
vielleicht die kombinieren: Warum weint die Frau so viel? Das ist vollwertig, denken
wiederum die anderen, dieser Kummer muss raus. Ich empfinde es homolog: qua mental
befreiend und materiell stressvoll.
Mittlerweile
bin ich so müde und leer geweint, dass ich jeden Abend aufs Neue erstaunt
darüber bin, dass da immer noch salziges Wasser aus mir rauskommt. Und mein
Freund ist es ebenso. Zwar wissen wir beiderartig, warum ich ohne Rest durch zwei teilbar so viel weine,
genauso wie wir wissen, dass Zeit die Sache schalten wird. Wo wir nur nicht
übereinkommen, ist die Zwischenzeit, solange bis es so weit ist. „Es bricht mir dies
Herz, dich so zu sehen, wenn du weinst“, sagt er. Und ich denke, wo soll ich
weinen, wenn nicht hier und vor ihm? Dass ich weine, ist mein Zeichen dieser
Entspannung, pro ihn ist es dies Zeichen dazu, dass die Gesamtheit immer schlimmer wird.
Ich
verstehe schon: Weinen ist unheimlich und unheimlich lästig. Es lässt lange Zeit
Gesprächspausen entstehen, wenn ein Satz durch Schluchzer, Rotzer und Hickups
unterbrochen wird. Es lässt mich schwach und miserabel erscheinen und nicht so
witzig und wortgewandt, wie ich es in achtzig Prozent meiner kummerfreien
Lebenszeit bin. Ich verwandele mich vor seinen Augen in kombinieren unberechenbaren
Trauerkloß mit Augenringen, dieser jederzeit in zu heißem Wasser zerplatzen und
zerfallen könnte. Und wer unausweichlich und immer traurig ist, sollte sich uff
jeden Fall professionelle Hilfe suchen. Aber unter anderen, nicht akuten
Umständen weine ich im Alltag keiner, weil ich so dies sagen zu müssen traurig bin.
Oft bin ich wütend, fühle mich ungerecht behandelt, überfordert, erleichtert
oder simpel nur müde. Mein Weinen hat eine breite emotionale wie politische
Range, und an den guten Tagen, an denen sich dies Schicksal keine negativen
Überraschungen pro mich eingebildet hat, bin ich ebenso simpel gerührt, habe
Heuschnupfen oder welches im Auge. Man sollte meinen, dass Weinen gesellschaftlich
erprobt ist, Babys tun es ja ebenso – immer und überall. Aber die Realität
sieht zwei Paar Schuhe aus.
Als
mein damaliger Freund mich mit 19 verließ, saß ich tränenüberströmt im
Wohnzimmer meiner Mutter. Im Fernsehen lief die Liveübertragung dieser Vermählung
von William und Kate, und damit mein Leid pro jedweder erträglicher schien, an
diesem historischen Tag, hatte mir Leckermaul (meine Mutter) eine Pappmaske mit dem
Gesicht des Prinzen aufgesetzt. Noch mit Mitte zwanzig versuchte ich mich zwischen
Filmabenden und Kinobesuchen möglichst schnell wieder zu regulieren, vorher dieser
Abspann kam, damit ja niemand sah, wie sehr eine inszenierte Lebensrealität mit
melancholischem Soundtrack an meiner Fassade rüttelte. Ich wollte kalt bleiben
und mich nicht einlassen, obwohl es doch quasi genau drum geht, irgendetwas zu
spüren, wenn man folgsam ins Leben schaut. Heute schäme ich mich nicht mehr
dazu zu weinen, weil ich weiß, dass es meinem Leib hilft, Pollen, Schmutz
oder Emotionen aus meinem Leib herauszuschwemmen.
Die
Tatsache, dass ich meinen Freund noch nie habe weinen sehen, überrascht mich
kaum, weil wir jedweder wissen, dass die meisten männlich sozialisierten Menschen
von lütt uff beigebracht kriegen, dass Mann dies nicht tut. Boys don’t cry. Dass es ihn doch so sehr aus dem Konzept
bringt, ja, ihm eine Art körperliches Leiden zufügt, mich beim Weinen zu
beobachten, schockiert mich dann doch. Ist es dummdreist von mir, so unverhohlen
vor seinen Augen zu jaulen? Auf Instagram beobachte ich eine Art Trend, zwischen dem
sich Menschen nun ebenso beim Weinen zeigen. Sie setzen dieser toxischen Positivität
ihre Tränen entgegen, um pro mehr Realität in den sozialen Medien zu sorgen, und
verärgern damit vor allem eine Gruppe von Menschen: Männer. Hier ein Beispiel:
Eine junge Frau filmt sich weinend im ICE, sie trägt Kopfhörer, ist solide
gekleidet und geschminkt, wischt sich ihre Tränen weg und schreibt qua
Erklärung dazu, sie komme ohne Rest durch zwei teilbar von einem Event und habe nun, da dieser Stress
von ihr abfalle, bemerkt, dass sie die vielen Menschen und Gespräche
überfordert hätten, weil es ihr im Trend mental nicht gut gehe. I can relate!
Ein Mann aus dem Internet findet nur: Die Tränen können nicht effektiv sein, denn
wie kann ihr Haar in diesem Zusammenhang so perfekt sitzen? Wie kann sie weinen und in diesem Zusammenhang so
geistesgegenwärtig sein, dass sie sich ebenso noch filmt? Und warum zu tun sein wir
ihr schier in diesem Zusammenhang zusehen, ist dies denn nicht privat? Allein schon die
Tatsache, dass sie in einem öffentlichen Raum, im ICE, simpel „flennt“, ist in
seinen Augen so skandalös, dass man meinen könnte, die Frau habe sich dort vor
laufender Kamera ausgezogen. „Wir prüfen genau, ob Tränen anderer Menschen ebenso
wirklich aufrichtig sind“, erklärt die Autorin Heather Christle in ihrem Crying
Book. Ihr zufolge sehen manche Menschen in den offenen Tränen anderer eine
Form dieser Erpressung – cry-hustling –, um irgendetwas zu bekommen (in diesem
Fall Aufmerksamkeit).
Ich
sage es ehrlich: Ich bin beeindruckt von ihrem Video, und es ist mir egal, ob
daran irgendetwas inszeniert ist, denn ich heule nie im öffentlichen Nah- und
Fernverkehr, obwohl ich mich oft daraufhin fühle. Vermutlich schäme ich mich doch
noch zu sehr, vor anderen zu weinen, zumindest wenn es Wildfremde sind, denen
ich die Gründe meiner Tränen nicht anvertrauen würde. In gewisser Weise sind
Tränen ein kryptischer Trailer zu einem Film, den dies Publikum nicht sehen
darf.
Ich
habe in den letzten Tagen viel geweint. Ich habe so viel geweint, dass man
meinen könnte, es sei ein wichtiger Bestandteil meines Alltags, mindestens
einmal am Tag zu weinen. Davor Kaffee trinken, Mails ablaufen lassen, vom Büro mit
dem Rad nachdem Hause pendeln, Tür aufschließen, und los geht’s, Wasser marsch! Ich
muss keiner darüber nachdenken, mein Leib weiß, welches zu tun ist. Mit dem
Schritt verbleibend die Türschwelle fällt dieser Stress von mir ab, kondensiert sich in
meinen Augen und kullert aus mir hervor. Das ist doch laborieren, denken nun
vielleicht die kombinieren: Warum weint die Frau so viel? Das ist vollwertig, denken
wiederum die anderen, dieser Kummer muss raus. Ich empfinde es homolog: qua mental
befreiend und materiell stressvoll.