Was verbindet den Markenauftritt welcher Fußball-EM mit Le Corbusiers Architektur?

Der WM von 2006 verdanken Fußballfans die Arena in Köln-Müngersdorf und das Leipziger Zentralstadion. Sie ist aber auch schuld daran, dass für diese EM kein Neubaubedarf bestand. Architekturbegeisterte Besucher kommen trotzdem auf ihre Kosten, wie man am Berliner Olympiastadion sieht, wo sie an spielfreien Tagen vor dem Marathontor posieren, das auch der Eingang für die Olympischen Spiele von 1936 war.

Direkt nebenan befindet sich das Maifeld mit seinem Glockenturm, der einst Mussolini als Kulisse diente. Etwas weiter weg liegt der nach dem sportlichen Vater der Nation benannte Jahnplatz, ein antikisierendes Tempelhof mit Treppen, in dessen Mitte man schwimmen kann. Der Weg lohnt sich vor allem deshalb, weil auf der anderen Seite der Bahngleise, an der Flatowallee, die Unité d’habitation des Architekten Charles-Édouard Jeanneret-Gris steht, der besser unter dem Namen Le Corbusier bekannt ist. Das Corbusierhaus ist die eigentliche städtebauliche Attraktion der Gegend, eine Ikone der Nachkriegsmoderne und ein brutalistischer Traum, der offenbar nachgewirkt hat. Wenn die Fotos vor dem Olympiastadion derzeit besonders schön werden, liegt das daran, dass der sonst so graue Sportblock farbenfroh mit Bannern überzogen ist, und wer genau hinschaut, wird eine Parallele zwischen dem Werk Le Corbusiers und dem Corporate Design der EURO 2024 erkennen.

Grafisch ist die Leitidee dieser EM, alle UEFA-Mitglieder in einem durchmischten Bunt zusammenzubringen, vor allem aber die 24 Teilnehmerländer, deren Farben zergliedert und neu zusammengesetzt werden. Dadurch entstehen aus den diversen Grundtönen völlig neue Konstellationen. Ein demokratischer Gedanke, weil außerdem Menschen aller Hauttypen auf den Collagen zu sehen sind. So erklärt sich der Slogan für dieses Turnier: United by Football. Gestalterisch besonders interessant ist, wie die einzelnen Elemente miteinander kommunizieren und ineinander übergehen.

Le Corbusier nannte es „architektonische Camouflage“

Le Corbusier war einer der Ersten, die das Gespräch der Farben mit einem äußeren Zweck versahen und für die Architektur zu nutzen wussten. Er bediente sich des farblichen Verbindungsprinzips, um Gebäudeteile neu zu gruppieren. Ein Treppenhaus nimmt die Wand des Nachbarhauses in sich auf, wenn beide nur gleich gestrichen sind. Die Grenzen verfließen. Le Corbusier nannte das camouflage architectural.

Gerade bei großen, klobigen Komplexen ist die Methode effektiv, um Strukturen aufzulockern. Nach der Wende wurden viele Plattenbauten in Ostdeutschland knallbunt angemalt, aber kaum eines der dabei benutzten Verfahren kommt an Le Corbusier heran, dessen Bauten trotz ihrer Geradlinigkeit geradezu verspielt wirken. Le Corbusier bricht durch seine Farbgebungsmethode den Sichtbeton auf. In der Berliner Unité geschieht das durch die markant kolorierten Balkone, die sich voneinander trennen und wieder zusammenkommen, als würde das Gebäude flackern. Das ist der Unterschied zwischen einem Regenbogen und farblicher Bewegung.

Wie bei den Toleranzbannern der EM spielen dabei nicht nur ästhetische Erwägungen eine Rolle. Städtebau ist politisch, und Fragen des gemeinsamen Wohnens waren beim Wiederaufbau nach dem Krieg so aktuell wie heute. Der karnevaleske Zusammenhalt der Fassaden bringt den Kern von Le Corbusiers architektonischem Anliegen zum Ausdruck: Identität ohne Gleichmacherei. Die Menschen sind in der Stadt zusammengezwängt, das gilt gerade in riesenhaften Wohnkomplexen wie Le Corbusiers sogenannter Wohnmaschine. Die Herausforderung liegt darin, eine serielle Bauweise, die Massen von Menschen ein Zuhause bietet, mit der Privatsphäre des Eigenheims zu verbinden, andererseits zu vermeiden, dass sich die Bewohner in ihren Wohnungen als Monaden isolieren.

Alle unter einem Himmel – wie auf der Fanmeile der EURO 2024

Le Corbusier sah eine Wohngemeinschaft vor, die beides beinhaltet: Eigenheit und Synthese. Die Appartements sind als Maisonettewohnungen angelegt und verfügen jeweils über einen Balkon respektive eine Loggia, die durch dicke Seitenwände vom Pendant der Nachbarn abgegrenzt ist. Zugleich sollten die Menschen aber auch als Allgemeinheit zusammenkommen, Le Corbusiers Bauprojekt trägt die Einheit nicht umsonst im Namen. Dafür waren Kinos und Gärten vorgesehen, vor allem aber die Dachterrasse. Alle an einem Ort und trotz der regelmäßigen Abmessungen nicht auf einen Nenner gebracht. Alle unter einem Himmel wie auf der Fanmeile der EURO 2024. Man feuert nicht dasselbe Team an, kann sich aber trotzdem in den Armen liegen. Man muss nicht im selben Raum schlafen und kann trotzdem nachts gemeinsam die Sterne betrachten – so lautet wohl in etwa der Gedanke.

Auf einem Pfeiler der Berliner Unité ist in den Beton eine Passage aus Le Corbusiers theoretischem Programm, der Athener Charta von 1933, eingraviert. In dem Absatz wird die „Indisozialität“ gefeiert: Jeder ist besonders, alle sind Teil einer Gemeinschaft. Hier herrschen Freiheit und Kollektivität.

Die Konstruktion der Berliner Variante seiner sonst nur in Frankreich realisierten Wohneinheiten für die Interbau-Ausstellung von 1957 hat Le Corbusier viel Ärger bereitet. Die Deutschen wollten seine Pläne nicht eins zu eins umsetzen.

So wurden die Abmessungen (Modulor) nicht übernommen, die Zimmer sind mit 2,50 Meter knapp einen Viertelmeter höher als die französischen Originale. Auch in die Verteilung der Markisen (Brise Soleil) wurde eingegriffen, was den Stararchitekten erzürnte, aber auch zu neuer Höchstleistung anspornte, denn gerade um das Markisenmanko zu kompensieren, ersann er die spezielle Farbgebung, die das Gebäude neben dem Olympiastadion so einzigartig macht: Die sich abwechselnden Farbfelder sind im Winkel von 60 Grad abgeschrägt und simulieren so die fehlenden Sonnenblenden. Man könnte an geschwungene Fahnen denken. Wegen seiner Sportlichkeit stand der Schweizer Architekt zuletzt in der Kritik. Einige seiner Bauten wie die Cité Radieuse in Marseille verfügen über Sportplätze auf den Dächern, und es gibt Theoretiker, die das Angebot der körperlichen Ertüchtigung als Aufforderung begreifen und eine Linie zu reaktionären Gesundheitsvorstellungen ziehen. Sport war nicht nur bei Turnvater Jahn und den Nazis, sondern auch im Vichy-Regime eine ideologische Säule. Der Gedanke drängt sich umso mehr auf, als Le Corbusiers Schriftverkehr nicht frei von antisemitischen Äußerungen ist und seine Großprojekte naturgemäß eine Affinität zur Megalomanie des Faschismus aufweisen.

Theodor W. Adornos Utopie kommt das sehr nahe

Zumindest der architektonischen Idee wird man allerdings das progressive Moment nicht absprechen können. Zwar handelt es sich bei den Wohnanlagen um industrielle Massenfertigung – Ziel war die vernünftige, zweckrationale Unterbringung möglichst vieler Menschen –, aber es sind auch keine mehrgeschossigen Kasernen geworden. Wie will man sonst in Großstädten zusammenwohnen? Le Corbusier dürfte der Utopie recht nahe gekommen sein, die Theodor W. Adorno einmal so bestimmt hat: Es komme darauf an, gemeinsam verschieden sein zu können.

Dieselbe Utopie wird von der UEFA bei dieser EM verfolgt. Man hat das Gefühl, große Sportevents sahen schon immer so aus, aber das stimmt nicht. Das erste Markenlogo einer Europameisterschaft dürfte das der EM von 1996 gewesen sein, die in England, dem Heimatland von Fußball und Kapitalismus, stattgefunden hat: ein Clip-Art-Ball mit Flicken in den Grundfarben, darin eine den orangen Ball schießende Figur. Bei den Turnieren davor benutzte man noch für jede Veranstaltung ein Standardlogo, variiert nur durch die Länderfarben des jeweiligen Austragungsortes. Die letzte EM in Deutschland, 1988, war schwarz-rot-gold. In Schweden vier Jahre später benutzte man dasselbe Design in Gelb und Blau.

Nach 1996 dominieren wieder die Fahnen der Gastgeberländer. Die Gestaltung wird aber etwas flexibler – Herzen, Blumen und Berge. Ästhetische Haltbarkeit hat das nicht verbürgt, keiner der Entwürfe würde heute noch als gelungen gelten. Das knallige Logo von diesem Jahr zeigt den Turnierpokal umgeben von den Farben der teilnehmenden Nationen und sticht aus der Reihe der Vorgänger zumindest durch seine inklusive Botschaft hervor. Die verantwortliche Werbeagentur aus Portugal schafft, was dem deutschen Team in Katar weder mit der Binde noch mit dem Mannschaftsfoto geglückt ist. Man kann sich fragen, warum eine EM überhaupt eine Marke ist. Im poppigen Design gehen die Sponsoren mit ihren eigenen Logos jedenfalls problemlos unter. Aber nicht die Kommerzialisierung des Sports ist das Rätsel, sondern wie sie sich gestaltet; Großereignisse spiegeln selbstverständlich ihre Gesellschaft. Der kulturindustrielle Verdopplungseffekt – man sieht im Kino den Alltag noch einmal – wird in der Gegenwart zur Immersion gesteigert. Fiktion ist von Realität nicht mehr zu unterscheiden.

Die Fanmeile ist mit Kunstrasen ausgelegt und simuliert für Instagram ein Paralleluniversum; ebenso zeigt das Corporate Design Figuren, die einem Computerspiel entsprungen sein könnten. Das Event nimmt seine virtuelle Vervielfältigung vorweg. Jubelnde Fans werden von Bannern angefeuert, auf denen Jubelfiguren zu sehen sind. Flaggen zeigen Flaggen.

Der als Spektakel operierende Ereigniskapitalismus multipliziert seinen Verblendungseffekt durch das Digitale, dessen Fiktionalität auf das zurückwirkt, was man in Anlehnung an Hegels Begriff der „ersten Natur“ erste Kultur nennen könnte. Einigkeit und Recht und Freiheit sind Teil dieses Scheins. Das Versprechen lautet, dass es auf jeden ankommt, Hautfarbe und Geschlecht egal sind.

Vielleicht müsste man den Gedanken so drehen: Das ökonomische Prinzip der kapitalistischen Gesellschaft ist mit dem Sport über den Wettbewerb verbunden. Die Menschen kämpfen in der Wirklichkeit gegeneinander, genauso wie die Mannschaften beim Fußball. Auch bei den Fans kommt es auf das falsche Allgemeine an. Die Individuen gehen im Fanblock, in der Masse ihrer Nationalfarben unter, ebenso wie sie wirtschaftlich nicht als Einzelne, sondern als Marktwesen für die Gesellschaft interessant sind. Selbst Europa kommt bei der EM nur in dem Maße zusammen, in dem es durch das bunte Eurogeld mit seinem Münzaustausch von Partikularitäten zusammengewachsen ist.

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