Was passierte, qua am 13. Februar 2023 ein Neutrino ins Mittelmeer stürzte

In einer Tiefe von 3450 Metern fingen Detektoren im Mittelmeer ein ungewöhnliches Signal auf. Physiker stießen so auf einen besonderen „kosmischen Boten“.

Am 13. Februar 2023 schoss ein Elementarteilchen mit gewaltiger Energie durch die Detektoranlage ARCA hindurch, die vor der Küste Siziliens auf dem Grund des Mittelmeers entsteht. Sensoren auf der gesamten Länge von ARCA registrierten das Teilchen in einer Tiefe von 3450 Metern und ermöglichten eine Analyse des Ereignisses.

Ursache sei, berichtet das ARCA-Team jetzt im Fachmagazin „Nature“, das bislang energiereichste Neutrino, das je aus den Tiefen des Weltalls auf der Erde empfangen wurde.

„Neutrinos zählen zu den geheimnisvollsten Elementarteilchen“, erläutert Rosa Coniglione vom Nationalen Institut für Kernphysik in Italien, eine leitende Forscherin des ARCA-Experiments. „Sie besitzen keine elektrische Ladung und fast keine Masse und reagieren nur sehr schwach mit normaler Materie.“ Das macht den Nachweis dieser Teilchen schwierig: Sie können den gesamten Erdball durchqueren, ohne eine einzige Reaktion auszulösen.

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Im Mittel treffen in jeder Sekunde zehn Milliarden Neutrinos auf jeden Quadratzentimeter der Erdoberfläche. Um wenigstens einige davon nachzuweisen, installieren Forscher in internationaler Zusammenarbeit große Detektoranlagen wie beispielsweise IceCube im antarktischen Eis oder eben ARCA im Mittelmeer.

Reagiert ein Neutrino mit einem Wassermolekül, so entstehen elektrisch geladene Teilchen: Myonen, die mit nahezu Lichtgeschwindigkeit herumrasen und dabei bläulich leuchten. Diese sogenannte Tscherenkow-Strahlung registrieren die Detektoren in der Tiefsee mit zahlreichen Lichtverstärkern.

Insgesamt 128.340 solcher Lichtverstärker soll ARCA nach seiner Fertigstellung enthalten. Hinzu kommen noch einmal 64.170 Lichtverstärker in ORCA – in 2450 Metern Tiefe vor der französischen Mittelmeerküste bei Toulon –, mit der ARCA dann zusammen das Kubikkilometer-Neutrino-Teleskop namens KM3NeT bildet. Die KM3NeT-Kollaboration vereint mehr als 360 Wissenschaftler, Ingenieure, Techniker und Studenten von 68 Institutionen aus 22 Ländern auf der ganzen Welt.

Wenn KM3NeT fertig ist, wird das Tiefsee-Observatorium mehr als einen Kubikkilometer umfassen. Es nutzt Meerwasser sowohl als Detektionsmedium als auch zur Abschirmung von Hintergrundgeräuschen. Das 2023 identifizierte Signal hatte eine Energie, die 16.000 Mal größer ist als die stärksten Teilchenkollisionen, die der Large Hadron Collider des CERN erzeugen kann.

Das am 13. Februar 2023 von ARCA empfangene Signal stammt von einem Myon mit einer Energie von 120 Peta-Elektronenvolt. Das Myon durchquerte die Detektoranlage nahezu waagerecht, es konnte also nicht oberhalb der Anlage durch kosmische Strahlung in der Erdatmosphäre entstanden sein. Die einzige mögliche Erklärung, so die Wissenschaftler: Das Myon ist durch den Zusammenstoß eines Neutrinos mit einem Wassermolekül in unmittelbarer Nähe des Detektors entstanden.

Dieses Neutrino muss noch energiereicher als das Myon gewesen sein: 220 Peta-Elektronenvolt, so haben Coniglione und ihre Kollegen ausgerechnet. Das ist mehr als das Zwanzigfache des bisherigen Rekords eines von IceCube nachgewiesenen Neutrinos. Neutrinos sind nach den Lichtteilchen oder Photonen die zweithäufigsten Teilchen im Universum. Da sie nur sehr schwach mit Materie wechselwirken, erfordert ihr Nachweis große und sehr empfindliche Instrumente. „Sie sind besondere kosmische Boten, die die Geheimnisse der energiereichsten Phänomene im Universum lüften“, sagt Coniglione.

Physiker messen die Energien von Elementarteilchen in Elektronenvolt, die Vorsilbe Peta bedeutet eine Eins mit 15 Nullen, also eine Million Mal eine Milliarde. Für ein Elementarteilchen ist das unglaublich viel: Es ist fast so viel wie die Energie eines kleinen Hagelkorns, das mit 50 Kilometern pro Stunde auf den Erdboden aufschlägt.

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Woher das Monster-Neutrino stammt, können Coniglione und ihre Kollegen, darunter Astronomen des Max-Planck-Instituts für Radioastronomie in Bonn, nicht sagen, denn dazu reicht die Genauigkeit der ARCA-Messung noch nicht aus. Zum Zeitpunkt der Messung war erst ein Zehntel der geplanten Detektoren in Betrieb. Wenn das KM3NeT erst vollständig fertiggestellt ist, so hoffen die Forscher, lässt sich auch der Ursprung der extrem energiereichen Neutrinos ermitteln.

Das hochenergetische Neutrino könnte direkt aus einem leistungsstarken kosmischen Beschleuniger stammen, oder es könnte der erste Nachweis eines kosmogenen Neutrinos sein. Da es sich jedoch nur um ein einziges Ereignis handelt, bleibt sein Ursprung ungewiss.

Supermassereiche Schwarze Löcher, Sternexplosionen und Zusammenstöße von Neutronensternen kommen dafür infrage – oder auch bislang noch unbekannte Phänomene, so die Wissenschaftler. „Diese erste Entdeckung eines Neutrinos mit Hunderten von Peta-Elektronenvolt“, meint Paschal Coyle, KM3NeT-Sprecher zum Zeitpunkt des Nachweises und Forscher am IN2P3/CNRS in Frankreich, „öffnet ein neues Kapitel der Neutrino-Astronomie und damit ein neues Beobachtungsfenster in das Universum.“

Rainer Kayser, dpa/sk

Source: welt.de

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