Was passiert, wenn George R. R. Martin zusätzlich Außerirdische und Viren schreibt

Was passiert, wenn George R. R. Martin zusätzlich Außerirdische und Viren schreibt

In der jüngsten Veröffentlichung von George R. R. Martin geht es nicht um Feuer und Eis, sondern um tödliche Viren: Menschen sterben oder mutieren zu Monstern, Superhelden – aber nach welchem Muster?

Als Schöpfer des monumentalen „Game of Thrones“-Epos ist der US-Schriftsteller George R. R. Martin weltweit bekannt geworden. Sein Name dürfte seither nicht nur Fans der Genre „Fantasy“ und „Science Fiction“ ein Begriff sein. Nun aber kann der 76-jährige Autor von zahlreichen Romanen, Kurzgeschichten und Drehbüchern in einem geradezu exotischen Gebiet Premiere feiern: George R. R. Martin veröffentlicht jetzt erstmals einen Text in einer physikalischen Fachzeitschrift.

Der Fachaufsatz mit insgesamt elf Seiten und vielen Formeln erscheint aktuell im „American Journal of Physics“ unter dem Titel „Ergodic Lagrangian dynamics in a superhero universe“. Thema dieser exzentrischen Arbeit ist die Infektions-Dynamik eines fiktiven Virus im Superhelden-Universum der „Wild Cards“-Anthologie: Eine Science-Fiction-Reihe mit mehr als 30 Büchern, als deren Herausgeber Martin fungiert. Aber sein Name steht nicht nur deshalb auf der Facharbeit, gleich hinter dem Hauptautor.

Vom Forscher zum Autor

Verfasst hat sie der theoretische Physiker Ian Tregillis. Und auch wenn sein Name klingt, als hätte Martin ihn erfunden, existiert dieser Mensch in der US-amerikanischen Gegenwart: Tregillis arbeitet am renommierten Los Alamos National Laboratory (LANL) im Bundesstaat New Mexico. Dort wurde unter anderem – im Rahmen des berühmt-berüchtigte Manhattan Projekts – die erste Atombombe entwickelt.

„Es ist eine alberne, kleine Spielerei in meiner Freizeit, in welcher der Wissenschaftler und der Schriftsteller in mir kollidieren“, sagt Tregillis gegenüber WELT. Tagsüber widmet sich der Wissenschaftler theoretischen Modellen von Hochenergiedichte-Physik und Kernfusion, nachts sprengt er alle Grenzen der Realität – und schreibt Science-Fiction-Romane. Diese aktuelle „Spielerei“, betont Tregillis, werde von seinem Arbeitgeber in keiner Weise finanziert oder auf andere Weise unterstützt.

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Die Bekanntschaft mit dem „Game of Thrones“-Erfinder reicht fast 25 Jahre zurück, als der Physiker Anfang der 2000er-Jahre nach New Mexico zog, um in Los Alamos seine Forschungsarbeit fortzusetzen. Zu seiner Überraschung fand Tregillis in New Mexico eine blühende Subkultur von Science-Fiction-Autoren vor. Er besuchte Schreib-Workshops, begann Kurzgeschichten zu verfassen und lernte 2005 über Umwege George R. R. Martin kennen – den berühmtesten Schriftsteller der Gegend. „Ich erzähle Leuten immer, es ist besser Glück zu haben, als gut zu sein“, sagt Tregillis. „Und ich hatte sehr, sehr viel Glück.“

George R. R. Martin lud ihn ein, seinem „Wild Cards“-Konsortium beizutreten – einer Gruppe von mehreren Dutzend Autoren, die er mit Freunden in den 1980er-Jahren gegründet hatte. Zusammen erfanden sie Geschichten für ein fiktives Universum, das auf ein „Pen & Paper“-Spiel namens „SuperWorlds“ zurückgeht, geprägt von der Comic-Kultur der 1980er-Jahre.

Vom Spiel zur Buchreihe

Für ein „Pen & Paper“-Spiel schlüpfen die Akteure in die Rollen verschiedener Charaktere und erleben – bewaffnet mit Stift, Papier und Ereigniswürfel – ein Abenteuer: durch gemeinsames Erzählen einer Geschichte. Ein Freund hatte Martin das Spiel „SuperWorlds“ geschenkt, und aus einer zwei Jahre währenden „Rollenspielorgie“, wie es der Schriftsteller einmal nannte, entwickelte sich schließlich das „Wild Cards“-Universum. Begleitet von einer langen Buchreihe.

Die Bücher setzen im Jahr 1946 an, spielen allerdings in einer etwas anderen Nachkriegszeit: Außerirdische Telepathen starten ein biologisches Experiment auf der Erde. In der Folge infizieren sich Menschen weltweit mit dem „Wild Cards“-Virus, welches Überlebende entweder in Monster oder Superhelden verwandelt. Soweit das Ausgangsszenario.

„Es ist schon herausfordernd. Normalerweise schreiben etwa ein halbes Dutzend von uns an einem ‚Wild-Cards‘-Buch“, erzählt Ian Tregillis im Gespräch mit WELT und lacht. Er selbst arbeitete an fünf Büchern der Reihe mit. Dadurch lernte er seinen Agenten kennen und veröffentlichte zwischen 2010 und 2016 sieben eigene Bücher. „Und dann brannte ich völlig aus. Ich hatte ja noch meinen Job tagsüber“, sagt Tregillis. Für ein paar Jahre hörte er auf, fiktive Geschichten zu schreiben, und konzentrierte sich ganz auf die Physik. Trotzdem ließ ihn die fantastische „Wild Cards“-Welt nie völlig los.

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„Da war immer die Frage, ob einige Grundannahmen dieser Welt mathematisch überhaupt Sinn ergeben“, sagt Tregillis. Erst habe er nur auf der Rückseite eines Briefumschlags herumgekritzelt, sich dann jedoch mehr und mehr in den Gedankenspielereien verloren. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die rigide Verteilung von Infektionen, die im „Wild Cards“-Universum stets als gegeben vorausgesetzt wird.

Während 90 Prozent der Infizierten sterben, mutieren neun Prozent zu „Jokern“, deformierten Monstern. Ein Prozent dagegen entwickelt zufällige, übernatürliche Fähigkeiten – diese Menschen werden zu Superhelden. Sie sind die „Aces“. Welche Wirkung muss ein Virus haben, damit sich im Laufe der Zeit eine stabile 90:9:1-Verteilung heruasbildet? Welche Gleichungen könnten diesen dynamischen Prozess beschreiben? Diese theoretischen Fragen trieben den Physiker um.

Im Mai 2019 begann Tregillis, von George R. R. Martin ermuntert, seine Ideen in einem Blog niederzuschreiben. Darüber tauschten sich die beiden in mehreren Beiträgen aus, bis das Thema mit dem Beginn der Corona-Pandemie plötzlich echte Relevanz bekam. Gab es bei Infektionen mit dem „Wild Cards“-Virus wie bei Sars-CoV-2 unentdeckte, asymptomatische Fälle? Wie viele der Überlebenden werden zu „Jokern“ oder „Aces“, bemerken es aber nie? Vielleicht weil die Veränderungen zu klein sind oder ihnen im Alltag nicht bewusst werden? Als Beispiel schildert Ian Tregillis den fiktiven Fall eines Menschen, der die Fähigkeit entwickelt, mit Walen zu sprechen, aber inmitten der USA lebt, fern der Küste.

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„Schließlich schlug ich halb im Scherz vor, es könnte einfacher sein, eine echte Physikarbeit zu schreiben als einen weiteren Blogbeitrag“, sagt Tregillis. Als er Martin die Co-Autorenschaft anbot, fragte dieser, ob sie damit den Nobelpreis gewinnen würden. „Ich meinte, die Chancen seien gering, er überlegte kurz und sagte dann ‚egal, lass es uns trotzdem machen‘.“

Durch ihr Modell lasse sich natürlich nicht erklären, wie ein Virus Superkräfte verleihen könnte, meint Tregillis. Jedoch sei es Martin und ihm gelungen, das abstrakte Problem der „Wild Cards“-Verteilung auf ein fundamentales physikalisches Prinzip zu reduzieren, das der kleinsten Wirkung. Dieses liege nicht nur dem Lagrange-Formalismus der klassischen Mechanik zugrunde: „Es ist universell in der Physik, von der Quantenmechanik bis zu Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie. Überall taucht es auf.“

In einem weiteren Schritt könnte man nun überlegen, ob sich das Modell auf die Corona-Pandemie übertragen lässt, um daraus die Fallzahlen für Long Covid zu bestimmen. „Ich vermute, für echte Epidemiologen wird es wenig Nutzen haben. Aber vielleicht ist es etwas für motivierte Studenten“, sagt Tregillis. Sie beschlossen das Paper im „American Journal of Physics“ zu veröffentlichen, welches sich traditionell mit didaktischen und kulturellen Aspekten der Physik befasst.

Die Hoffnung ist, so Tregillis, dass ihre Arbeit den Pädagogen als eine Art begleitete Entdeckungsreise für Studenten dienen könnte. In einem kurzen Video wird auch anschaulich erklärt, was es sich damit überhaupt auf sich hat.

„Natürlich ist ein fiktives Virus, das Menschen in Monster oder Superhelden verwandelt total albern“, gibt der Physiker Ian Tregillis zu. „Wir wollen aber vermitteln, dass die gleichen Werkzeuge und Methoden, die man in einer Physik- oder Mathematik-Ausbildung erlernt, viel breitere und weniger offensichtliche Anwendungen haben, als man im ersten Moment denken könnte.“

Wer sich für solche Themen interessiert, der findet auf dem Cover der jüngsten Publikation von George R. R. Martin noch weitere Empfehlungen zur Lektüre. Titel wie „How to Teach the Electromagnetic Spectrum with Superheroes“ oder „Bringing a Superhero Down to Earth“ lassen Physik alles andere als langweilig erscheinen.

Source: welt.de

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