Einfach nur zu sagen: „Es verhungert ja keiner in unserm Land“, reicht nicht. Menschen in diesem Land müssen nicht dahinvegetieren. Niemand muss in seiner Wohnung frieren oder mit zu wenig materiellen Gütern versorgt sein, die für ein würdevolles Leben notwendig sind. Zumindest theoretisch.
Ein solches Leben steht laut dem höchsten Gericht auch Erwerbslosen zu. So erklärte es das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) explizit am 9. Februar 2010. Das Gericht leitete dieses Grundrecht aus der verfassungsrechtlich verankerten Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip ab, also Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz. Dabei müsse neben der physischen Existenz auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben gesichert sein.
Das war ein Donnerschlag in der deutschen Rechtsgeschichte und Sozialpolitik. Denn so deutlich hatte das noch kein Gericht zuvor formuliert. Daraus entstanden auch viele Fragen, die zu lösen und darum zu ringen das Gericht der Politik aufgetragen hat: Was gehört denn zum Existenzminimum? Selbst wenn Einigkeit besteht hinsichtlich Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Hygiene und Gesundheit – der Streit beginnt, wenn wir konkret werden. Fangen wir mit dem Essen an: Was ist Minimum, was Luxus? Brot nein, Kuchen ja? Konserven ok, frisches Obst und Gemüse, zu dekadent?
Dazu kommt eine weitere Herausforderung. Geradezu spektakulär am Karlsruher Urteil war, dass auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gesichert sein müsse. Wie viel Geld braucht ein Minimum an politischer Teilhabe? Aktuell stehen erwachsenen Singles im Bürgergeld monatlich 563 Euro zu. Der Posten beispielsweise für „Gesundheitspflege“ liegt bei 21,49 Euro. Die Ausgaben für „Bildung“ werden mit 2,01 Euro bemessen und Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke dürfen 195,39 Euro kosten.
Wir könnten noch kurz darüber sinnieren, warum Grabschmuck oder ein Weihnachtsbaum nicht zum Existenzminimum gehören. Mutmaßlich haben Menschen in Armut keine Angehörigen, die vor ihnen sterben könnten. Sie feiern keine Weihnachten, weil sie eh kein Geld für Gänsebraten oder Geschenke haben. Da könnte man ja gleich Champagner saufen!
Weniger Kaufkraft mit Bürgergeld als mit Hartz IV
Seit jeher kritisieren Sozialverbände die Ermittlung des Regelbedarfs, allen voran der Paritätische Wohlfahrtsverband. Der Regelsatz würde durch die angewendete Methode künstlich klein gerechnet. Heute würde laut Paritätischem der nicht-manipulierte Regelsatz 813 Euro betragen. Zuzüglich Strom und weißer Ware, also Haushaltsgeräte. Das wäre schon ein gewaltiger Unterschied.
Mit der Einführung des Bürgergelds im Januar 2023 stieg doch der monatliche Regelsatz um 53 Euro?! Nein, sorry, leider ein Irrtum! Die „Erhöhungen“ im Jahr 2023 und 2024 waren lediglich Anpassungen an die Inflation. Die Realität ist, dass die Menschen im Bürgergeld heute weniger Kaufkraft haben, als Menschen in Hartz IV.
Alle, die diesen Text aufmerksam gelesen haben, werden zurecht fragen, wie es überhaupt möglich sein kann, dass ein Existenzminimum, das verfassungsrechtlich verankert ist, überhaupt noch sanktioniert werden kann. Sanktionen haben in Deutschland eine lange Tradition, aber mit der Einführung von Hartz IV ist ein reiner Sanktions-Wahnsinn ausgebrochen.
Bis zu dem spektakulären Urteil des BVerfG 2019 wurden jährlich gut eine Million Sanktionen ausgesprochen, darunter viele tausend Totalsanktionen. Auf das Urteil wurde jahrelang hingebangt. Die Geschichte begann 2014. Dem damals 32-jährigen David wurde der Regelsatz um 30 Prozent monatlich gekürzt, nachdem er einen Job als Lagerarbeiter abgelehnt hatte, weil er eine Tätigkeit im Vertrieb anstrebte. Als David auch eine vom Jobcenter angeordnete Probetätigkeit im Lager ablehnte, wurde ihm die Leistung um weitere 30 Prozent gekürzt.
Dagegen reichte David Klage am Sozialgericht Gotha ein. Das Gericht jedoch stand vor einem Dilemma: Einerseits war der Regelverstoß offenkundig. Dem Jobcenter waren keine Verfahrensfehler vorzuwerfen. Andererseits stand in den Augen des Gerichts eine 60-prozentige Kürzung des Existenzminimums im Widerspruch zu dem BVerfG-Grundsatzurteil von 2010, in dem es hieß: „Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt.“
Das Gothaer Gericht stellte dieselbe Frage, die sich jeder vernünftige Mensch stellt: Wie soll es logisch möglich sein, das vom Gesetzgeber festgelegte Existenzminimum noch zu unterschreiten?
Zudem verwies es auf ein weiteres BVerfG-Urteil von 2014, in dem es hieß, der neu gestaltete Regelsatz sei „noch“ mit dem Grundgesetz vereinbar. Dieses „noch“, analysierte die Süddeutsche Zeitung damals aufmerksam, „klang nicht so, als gäbe es noch Luft nach unten“. Wie sollte man dieses Dilemma zwischen „formal alles richtig“, aber „unlogisch“ und „grundrechtlich zweifelhaft“ auflösen? Das Gothaer Gericht wandte sich 2015 ans Bundesverfassungsgericht. Und dann vergingen viereinhalb lange Jahre. In dieser scheinbar endlosen Wartezeit wurden rund viereinhalb Millionen weitere Sanktionen ausgesprochen.
Sanktionen haben keine „positive“ Wirkung
2019 entschied das Bundesverfassungsgericht: Ja, Sanktionen sind mit dem Grundgesetz vereinbar. Allerdings nur eingeschränkt! Denn Leistungskürzungen bedeuten, dass Menschen weniger als das Existenzminimum bekommen. Und das sei zwar erlaubt, aber nur kurzzeitig und mit größtem Bedacht! Außerdem maximal 30 Prozent des Regelsatzes. Damit waren 60- und 100-prozentige Kürzungen, die automatisch gleich 3 Monate gingen, immerhin endlich verboten!
Das Gericht führte aus, dass Sanktionen geeignet, erforderlich und zumutbar sein müssen. Es stellen sich also drei Fragen:
- Geeignet: Inwiefern erreicht die Leistungsminderung den Zweck, Betroffene zu motivieren?
- Erforderlich: Gibt es auch andere, gleich geeignete, aber mildere Maßnahmen, um den Zweck zu erreichen?
- Zumutbar: Sind die Regeln flexibel genug, um auf den jeweiligen Einzelfall angemessen reagieren zu können?
Und noch etwas hat das BVerfG der Regierung mitgegeben: Nämlich, dass die positive Wirkung von Sanktionen auf den Arbeitsmarkt wissenschaftlich belegt sein muss.
Wissenschaftliche Belege gibt es genug. Unter anderem hat der Verein Sanktionsfrei im Jahr 2022 eine dreijährige Langzeitstudie vorgelegt, durchgeführt vom Institut für empirische Wirtschafts- und Sozialforschung (INES) die belegt, dass Sanktionen keine Wirkung haben. Keine einzige Studie belegt, dass Sanktionen eine „positive“ Wirkung hätten. Zu dem Schluss kommt auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Trotzdem sollen mit der „Neuen Grundsicherung“ die Sanktionen wieder verschärft werden.
Die Beharrlichkeit, mit der an Sanktionen festgehalten wird, grenzt an Fanatismus. Sie helfen niemandem. Aber sie lenken mit Bravour davon ab, dass als nächstes Abeitnehmer*innenrechte massiv eingeschränkt werden sollen und dass Reiche immer reicher werden, während arme Menschen in prekäre Jobs gedrängt werden. Denn eine schlecht ausgestaltete Grundsicherung ist vor allem eine Drohkulisse für Arbeitnehmende: Achtung, hier willst du nicht landen, koste es, was es wolle!