Warum viele bürgerliche Beobachter lieber die linken Gegenproteste in Gießen kritisieren, als auf die rechtsextreme Generation Deutschland zu blicken
Geht es nach der FAZ, war dieser Protest von Widersetzen in Gießen undemokratisch
Foto: Ying Tang/picture alliance
Sobald in Deutschland mal der Verkehr nicht fließt, ruft irgendwer „bürgerkriegsähnliche Zustände“ aus. Nach dem Wochenende in Gießen, wo bis zu 50.000 Antifaschisten gegen die Gründung der neuen Jugendorganisation der AfD „Generation Deutschland“, protestierten, fiel diese Aufgabe dem hessischen Innenminister Roman Poseck zu. „Ich verurteile diese Gewalt massiv“, fügte er hinzu – und meinte freilich nicht die von Polizisten verursachten Platzwunden einiger Demonstranten, sondern die Berufsrisiko-Kratzer der Beamten.
Der Protest des Bündnisses Widersetzen hatte das explizite Ziel, die Veranstaltung zu verhindern. Das ist eine klassische antifaschistische Strategie, die in der Vergangenheit immer wieder Erfolg hatte, wenn beispielsweise Versammlungen der NPD von der Polizei abgesagt oder verlegt wurden, weil gegen den Protest nicht durchzukommen war.
Dieses Ziel erreichten die Demonstranten nur teilweise: Die Gründungsversammlung der Generation Deutschland begann mit zweistündiger Verspätung und selbst da fehlten noch zahlreiche Teilnehmer. Man kann das angesichts der umfangreichen Unterstützung durch die gewaltbereite Exekutive für die GD durchaus als Sieg der Antifa bewerten.
Warum das deutliche Nein zur Generation Deutschland gerade jetzt so wichtig war
Dass die neue Jugendorganisation der AfD keinen Deut weniger rechtsextrem ist, als ihre Vorgängerorganisation, die Junge Alternative, darüber herrscht unter Beobachtern im Prinzip Konsens. Was also läge näher, als den zehntausenden Demonstranten dankbar zu sein, die ihr Wochenende, ihren Schlaf (die Anreise erfolgte für viele über Nacht) und – danke, Polizei! – ihre körperliche Unversehrtheit aufbrachten, um ein lautstarkes Signal gegen die Gründung der GD zu setzen?
In Zeiten, in denen die Abgrenzung zur AfD in konservativen Kreisen, bei der Kapitalfraktion und sogar unter manchen, die mal als Linke galten, bröckelt, ist so ein deutliches „Nein“ zur antidemokratischen, menschenverachtenden Organisation, die die AfD in jeder Faser ist, umso wichtiger.
Bürgerliche Politiker und Medien drehten den Spieß jedoch einfach um. Als hätte in der Halle die Versammlung von Demokraten und draußen die ihrer Feinde stattgefunden – wobei man stets pflichtschuldig betonte, nichts mit der AfD zu tun haben zu wollen.
FAZ: Proteste gegen AfD-Jugend verletzten die Demokratie
Ein Kommentator der Frankfurter Allgemeinen Zeitung befand etwa, die Demonstranten, die sich einer antidemokratischen Versammlung entgegenstellten, würden die Demokratie nicht verteidigen, „sondern sie verletzen sie“. Und zwar „nicht erst“ mit der Gewalt, die tatsächlich einige AfDler traf, „sondern schon mit dem Vorhaben, Andersdenkende daran zu hindern, sich zu versammeln.“ In den Lübecker Nachrichten war zu lesen, die Demonstranten hätten das Grundgesetz gebrochen. Merke: Wer die Demokratie verteidigen will, schadet ihr!
Nun stimmt es, dass es rechtswidrig ist, jemanden an der Ausübung seiner Redefreiheit zu hindern. Gleichzeitig sind störende Versammlungen wie Sitzblockaden von Artikel 8 GG, dem Recht auf Versammlungsfreiheit, durchaus geschützt. Diese etwas widersprüchliche Lage hat das Bundesverfassungsgericht kurz vor Gießen bekräftigt.
Aber die Frage ist doch eine politische, keine zuvörderst rechtliche. Nur keine verstopften Straßen, nur keine überfüllten Mülleimer – alles muss in Ordnung sein in Deutschland, auch wenn sich in dieser Ordnung eine rechtsextreme Machtübernahme abzeichnet.
Eine schlagkräftige rechtsextreme Organisation stellt sich neu auf
Es ist die alte Angst vor dem Chaos, die schon in der Weimarer Republik das Bürgertum und die gemäßigte Linke so zahnlos machte gegenüber jenen, die das Ende der Demokratie offen predigten.
Fürs Protokoll: Gewalt sollte unter demokratischen Verhältnissen kein Mittel der politischen Auseinandersetzung sein. Doch wenn sich die Repräsentanten des Staates und des deutschen Bürgertums augenscheinlich mehr Sorgen um die Demokratie machen, wenn sich ein paar Linke daneben benehmen, als wenn sich eine große, schlagkräftige rechtsextreme Organisation neu aufstellt – dann ist der Verdacht durchaus angebracht, dass es ihnen weniger um die Demokratie geht, und mehr um die Diskreditierung von allem, was links ist.
Passenderweise forderte Hessens Ministerpräsident Boris Rhein, „dass sich die gemäßigten Linken von diesem Gewaltwochenende von Gießen distanzieren“. Ein Schelm, wer Antikommunismus dabei denkt. Die AfD dankte derweil der Polizei für ihren „sehr professionellen Einsatz“.