Fans der bekanntesten Wahl-Pariserin der Welt dürfen sich freuen: „Emily in Paris“ geht in die fünfte Staffel. Das hat der Streamingdienst Netflix gerade bekannt gegeben. Nachdem Marketing-Agentin Emily Cooper in Staffel 4 mit dem attraktiven italienischen Modespross Marcello angebandelt hat, verschlägt es sie im kommenden Jahr nach Rom (der Titel der Serie bleibt trotzdem gleich). Die Verlängerung ist keine Überraschung. Die seichte Liebeskomödie war im August auf Platz 1 der weltweiten Netflix-Charts, 20 Millionen Haushalte schalteten in den ersten vier Tagen ein.
Emily hat zweifellos ihre Fans, den Autor dieses Textes eingeschlossen. Aber als Netflix-Kunde der ersten Stunde kommt man nicht umhin, sich zu fragen, was eigentlich aus dem einst revolutionären Streamingdienst geworden ist. Denn statt sich mit „Prestige TV“ vom linearen Fernsehen abzusetzen, produziert Netflix heute Serien, die auch auf RTL laufen könnten.
Zehn Jahre ist es inzwischen her, dass das aufstrebende Medien-Start-up aus der kalifornischen Stadt Los Gatos den Deutschen eine neue Welt des Fernsehens eröffnete. Es war der beste Deal des Jahrzehnts: Plötzlich konnte man zu jeder Zeit und auf jedem Endgerät seine neue Lieblingsserie schauen – ohne Werbung und für einen übersichtlichen Geldbetrag von anfangs acht Euro im Monat.
Und was das für Serien waren. Schon vor dem Deutschlandstart hatte der Streamingdienst begonnen, selbst Inhalte zu produzieren. Für die Eigenproduktionen ließ man sich nicht lumpen, das Banner „Netflix Original“ stand für Qualität. Für seinen ersten großen Hit, den Politthriller „House of Cards“, wurden Starregisseur David Fincher und Schauspieler Kevin Spacey verpflichtet. Netflix ging ins Risiko und bestellte gleich zwei Staffeln auf einmal. Die von Kritikern gefeierte Gefängnisserie „Orange Is the New Black“ drehte sich um die Schicksale marginalisierter Gruppen und schwierige Themen wie die Unterfinanzierung des Justizvollzugs.
Mit dem Streaming bekamen die Deutschen außerdem leichten Zugriff auf die großen Produktionen der Nullerjahre, die in Amerika als goldenes Zeitalter des Fernsehens gelten. Für sie hatte Netflix die Ausstrahlungslizenz, vom 60er-Jahre-Gesellschaftsepos „Mad Men“ bis zum Drogen-Thriller „Breaking Bad“. Galt es in intellektuellen Kreisen lange als schick, überhaupt keinen Fernseher zu besitzen, drohte man nun als Fernsehverweigerer die kulturellen Debatten der Zeit zu verpassen.
In den folgenden zehn Jahren hat sich die Fernsehwelt grundlegend gewandelt. Ein Netflix-Konto haben heute noch viel mehr Leute als damals, 278 Millionen Abos sind es weltweit. Aber statt anspruchsvoller Kunstwerke sind die prominentesten Inhalte dort heute gutes Mittelmaß. Das gilt für andere Streamingdienste genauso, sei es Prime Video, Disney+ oder Wow.
Die Serien sind nicht schlecht, bei Weitem nicht, und sie sehen optisch so gut aus wie nie zuvor. Aber Vergleiche zu Charles Dickens, wie mancher sie in der Blütezeit des Prestige-Fernsehens manchmal anstellte, sucht man heute vergeblich. Das „goldene Zeitalter des mittelmäßigen Fernsehens“ hat die „New York Times” das vor Kurzem genannt. Es sei das, was herauskomme, wenn man „den Produktionsaufwand erhöht und die Ambitionen herunterschraubt“.
Vielleicht ist gerade das viele Geld das Problem
Schließlich ist es nicht so, dass die Streamingdienste weniger Geld ausgeben als in den Nullerjahren. 17 Milliarden Dollar umfasst das Content-Budget von Netflix inzwischen, fast zehnmal so viel wie 2012. Amazon zeigt mit „Die Ringe der Macht“ gerade die vermutlich teuerste Serie aller Zeiten (die Kritiken sind durchwachsen). Doch vielleicht ist gerade das viele Geld das Problem. Denn hinter dem Ende des goldenen Fernsehzeitalters stecken knallharte wirtschaftliche Gründe.
Netflix zumindest macht keinen Hehl daraus, welche Strategie es heute verfolgt. Die ideale Netflix-Serie, hat die globale Fernsehchefin des Unternehmens, Bela Bajaria, im vergangenen Jahr gesagt, sei ein Gourmet-Cheeseburger. Soll heißen: hochwertige Zutaten, von Köchen zubereitet, die etwas von ihrem Handwerk verstehen – aber eben auch so massenmarkttauglich wie möglich.
Zwei wegweisende Vertragsabschlüsse stehen sinnbildlich für diese Strategie. Die Produzenten Shonda Rhimes und Ryan Murphy wurden 2017 und 2018 für viel Geld mit Exklusivverträgen an die Plattform gebunden. Beide hatten sich zuvor mit guten, massenmarkttauglichen Shows („Grey’s Anatomy“, „American Horror Story“) im linearen Fernsehen einen Namen gemacht. Sie standen für Erfolg, aber eher nicht für Prestige.
Die historische Romanze „Bridgerton“ war 2020 die erste Rhimes-Produktion für Netflix und ein Riesenerfolg. Murphy, der inzwischen zu Disney zurückgekehrt ist, hat für Netflix unter anderem den True-Crime-Trend mit Shows über Serienmörder wie Jeffrey Dahmer befeuert. Es ist die Art von Fernsehen, von der sich Netflix 2014 noch abhob.
Darüber hinaus ist auf Netflix wohl kein Segment so sehr gewachsen wie das Reality-Fernsehen. Von „Queer Eye“ bis „Kaulitz & Kaulitz“: Reality-Formate sind günstiger als aufwendige Dramen und halten die Zuschauer trotzdem bei der Stange. 2016 holte der Sender dafür einen Produzenten aus dem Free-TV, der die Sparte aufbaute.
Shows, die Aufmerksamkeit und Preise einbringen, waren für ein Start-up in der Wachstumsphase eine sinnvolle Investition, auch wenn ihre Zielgruppe klein war und sie nicht viel Geld erwirtschaftet haben. Doch dieses Wachstum hat Grenzen. Durch die gestiegenen Zinsen hat seit 2022 der Profitabilitätsdruck außerdem stark zugenommen. Netflix war lange der einzige Streamingdienst, der überhaupt Profit machte. Erst im vergangenen Quartal hat der große Konkurrent Disney mit seinen Streamingdiensten erstmals mehr eingenommen als ausgegeben. In den fünf Jahren davor stehen insgesamt mehr als elf Milliarden Dollar an Verlusten in den Büchern.
Spätestens als Netflix im Frühjahr 2022 erstmals Abonnenten verlor und der Aktienkurs um 70 Prozent abstürzte, war das ein Weckruf für die Branche. Der Kampf um Kunden ist härter geworden, und damit auch der Druck, hohe Produktionsbudgets zu rechtfertigen. Die Zeiten, als Streamingdienste Serien wiederbelebten, die das lineare Fernsehen abgesetzt hatte, um damit eine kleine Nische von Fans glücklich zu machen, sind vorbei. Heute ist es Netflix selbst, das bei Misserfolg schnell die Reißleine zieht. Kaum eine Serie läuft noch länger als drei Staffeln. Branchenmedien berichten, dass eine neue Serie schlicht mehr neue Abonnenten bringt als die vierte Staffel einer alten.
„Die eine Serie“ gibt es nicht mehr
Netflix ist nicht das einzige Unternehmen, dessen Ansprüche sich verschoben haben. Als Geburtsort des Prestige-Fernsehens gilt der amerikanische Pay-TV-Sender HBO, dessen Serien in Deutschland auf Sky ausgestrahlt werden. Hier liefen einst legendäre Serien wie „The Wire“ und „The Sopranos“. HBO produzierte nur ein gutes Dutzend Shows gleichzeitig, die Auswahl war streng. Heute gehört der Sender zum Medienkonzern Warner Bros Discovery und steht unter Druck, mehr Profit zu erwirtschaften – insbesondere mit weiteren Spin-offs der Fantasy-Serie „Game of Thrones“.
Ausnahmen gibt es freilich, aber sie knüpfen fast immer an schon bekannte Geschichten an, etwa die im Frühjahr von Kritikern gefeierte Netflix-Serie „Ripley“, die auf die Romane von Patricia Highsmith zurückgeht. Sie dominieren aber den Zeitgeist nicht mehr so, weil es seit der Ausweitung des Programms nicht mehr die eine Serie gibt, über die alle reden. Populär sind eh andere: „Bridgerton“ wurde in der ersten Jahreshälfte mehr als zehnmal so oft gestreamt wie „Ripley“.
Fraglich ist, ob sich an der Risikoaversion der Streamer in absehbarer Zeit etwas ändern wird. In der Branche gilt derzeit die Devise „survive till ‘25“: irgendwie bis ins nächste Jahr überleben, wenn hoffentlich wirtschaftlich bessere Zeiten kommen. Der Autoren- und Schauspielerstreik in Hollywood im vergangenen Jahr hat die Produktionspläne durcheinandergebracht, das ausgedünnte Programm wird man noch eine Weile spüren.
Eines jedenfalls spricht dagegen, dass das Programm wieder überraschender wird: die Tatsache, dass die Streamer für ihre günstigsten Tarife zunehmend auf Werbung als Einnahmequelle setzen. Werbekunden scheuen oft davor zurück, ihre Produkte im Umfeld von Tabubrüchen zu präsentieren. HBO konnte einst Grenzen ausloten, weil es als werbefreier Pay-TV-Sender nicht den gleichen Anstandsregeln unterlag wie die frei empfangbaren Kanäle.
In den Serien gab es deshalb mehr Sex und Gewalt, aber eben auch unkonventionellere, subversive Geschichten. In „The Wire“ waren die Polizisten korrupt, in „The Sopranos“ ein brutaler Mafia-Chef die Hauptfigur. Netflix konnte, als es noch nur auf Abogebühren angewiesen war, ähnlich vorgehen. Jetzt muss es mehr Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Werbekunden nehmen.
Wie sich eine andere Entwicklung auf die Qualität auswirken wird, ist derweil noch offen: das Ausdünnen des Programms. Netflix hat im Jahr 2023 etwa 130 Produktionen weniger auf den Markt gebracht als im Jahr zuvor. Disney will weniger Marvel- und Star-Wars-Inhalte produzieren, um einem Sättigungseffekt entgegenzuwirken und die Teams zu entlasten.
Einerseits könnte das bessere Qualität bringen. Andererseits war es gerade die gewaltige Expansion des Programms, die es erlaubte, kreative Nischen zu bespielen, und Talenten eine Chance bot, die es in der alten Fernsehwelt nie auf den Bildschirm geschafft hätten. In Zukunft könnte dafür weniger Platz sein – und das Programm zu einem noch größeren Anteil aus Gourmet-Cheeseburgern bestehen.
Der Werbespruch des Premiumkanals HBO war früher einmal: „It’s not TV.“ Dasselbe hätte man in den Anfangsjahren der Streaming-Ära auch über Netflix sagen können. Heute ist das Gegenteil der Fall. Netflix-Chef Ted Sarandos hat das im Mai auf den Punkt gebracht. Anfang der Nullerjahre habe er einmal gesagt: „Wir wollen HBO werden, bevor HBO zu uns wird.“ Diese Aussage bereue er nun: „Stattdessen hätte ich sagen sollen: Wir wollen HBO und [der amerikanische Free-TV-Sender] CBS und die BBC werden und all die anderen Sender, die auf der ganzen Welt die Leute unterhalten.“
Netflix und andere Streamingdienste sind nicht mehr das Anti-Fernsehen für Nerds. Sie sind selbst das Fernsehen geworden, mit all seiner Lukrativität – und all seiner Mittelmäßigkeit.