Ungefähr eineinhalb Jahre ist es her, da zog ich mich in einer Umkleidekabine einer größeren Modemarke um, als der Verkäufer plötzlich den Vorhang zur Seite wischte und einen sexy Herrenslip um seinen Zeigefinger kreisen ließ. „Na“, sagte er und glotzte mich mit verführerischen Augen an, „willst du den nicht mal als Nächstes anprobieren?“ Ich, halb nackt, war für einen kurzen Moment überfordert. „Nö, gerade kein Interesse“, antwortete ich und zog den Vorhang wieder vor die Kabine.
Bedroht fühlte ich mich in dieser Situation allerdings null. Im Gegenteil, ich fand es schmeichelhaft, dass der Verkäufer mich heiß fand. Das ist nur einer der Gründe, warum ich denke, dass ich der Falsche für diese Kolumne bin: Sexuelle Belästigung ist für mich keine konkrete Gefahr.
Ich bin ein cis Mann, 1,95 Meter groß, der nachts um halb drei bedenkenlos durch den Kleinen Tiergarten in Berlin spazieren kann. Hier wurde vor ein paar Jahren ein russischer Dissident erschossen, und Frauen fühlen sich an diesem Ort nachts auch eher unwohl. Ich hingegen schlendere in der Dunkelheit mit einem Döner in der Hand entspannt an diesem düsteren Fleckchen Erde vorbei. Auch als Student tickte ich schon so: Da wohnte ich am Gesundbrunnen in Berlin-Wedding und nahm oft eine Abkürzung nach Hause, die durch einen kleinen Tunnel führte.
Da sah es nachts aus wie in der Szenerie eines Horrorfilms: Die Lichtröhren flackerten im Dunkeln, alles lag fernab vom Schuss, und am Ende des Tunnels wartete eine verlassene Industriehalle. Einer Frau hätte ich auf jeden Fall empfohlen, den Weg zu meiden, wenn sie allein unterwegs war. Doch ich lief zu jeder beliebigen Uhrzeit mit einem Pfeifen auf den Lippen dort entlang. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, ich könnte überfallen, geschweige denn: vergewaltigt werden.
Da muss ich mich doch fragen: Bin ich der Richtige für eine Kolumne, in der es um die Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern, Gewalt gegen Frauen, queere und trans Menschen gehen soll? Die Wahrheit ist: Bin ich nicht. Ich habe wirklich keine Ahnung, wie es sich anfühlt, den öffentlichen Raum als bedrohlich wahrzunehmen.
In sexueller Hinsicht bin ich, wenn man das so sagen darf, „traditionell orientiert“. Ein stinklangweiliger Hetero halt. Aber was habe ich dann auf dem Genderkolumnenplatz verloren? Wollt ihr, dass ich euch mansplaine? Kann ich machen! Ehrlich! Aber dann nähme ich mich selbst nicht mehr ernst.
Also mache ich lieber Platz für eine Person, die ernsthaft etwas über geschlechterspezifische Probleme zu sagen hat. Am besten eine Person, die es fühlt, wenn sie über dieses Thema schreibt. Denn auch in diesem Land werden jedes Jahr mehr als 100 Frauen durch ihre Partner oder Ex-Partner umgebracht. Noch immer ist „schwul“ ein Schimpfwort auf den Schulhöfen im Land. Noch immer sind Eltern heimlich „erleichtert“, wenn ihre Kinder nicht homosexuell sind. Noch haben wir die Freiheit der Geschlechter und der Sexualität nicht erreicht. Aber ich bin der Falsche für diesen Kampf. Andere können es besser. Also ziehe ich mich zurück, auf den Platz des sympathisierenden Beobachters.
Ab sofort schreibe ich auf dieser Seite nur noch, wenn ich wirklich etwas zu sagen habe. Versprochen.
Übrigens: Den Verkäufer aus der Modefiliale habe ich nach seiner kleinen Anmachaktion noch um Rat gefragt, und zwar beim Kauf eines Pullovers. Warum auch nicht, dachte ich. Geschmack hatte er ja nachweislich.