Es ist möglich, miteinander zu reden: So lautete die Überschrift eines Kommentars, mit dem DIE UNION am 10. Oktober 1989 verblüffte, und damit den Umbruch in den weitgehend gleichgeschalteten Massenmedien der DDR einleitete. DIE UNION war eine CDU-Blockpartei-Tageszeitung, die in den drei sächsischen Bezirken Dresden, Leipzig und Karl-Marx-Stadt erschien. War es wirklich der „erste Perestroika-Artikel der DDR“, wie im renitenten Dresdner Bildungsbürgertum stolz kolportiert wird? Die Medienlandschaft jedenfalls veränderte sich in Ostdeutschland fortan rasant, und noch heute unterscheidet sie sich wesentlich von der West-Medienlandschaft.
Unverändert bevorzugen Ostdeutsche ihre regionalen von der SED übernommenen Tageszeitungen, der Absatz überregionaler westdeutscher Printmedien liegt weit unter dem Bevölkerungsanteil. Und das Beitrittsgebiet der ehemaligen DDR wird bei der Medienberichterstattung in toto weiterhin als Problemzone wahrgenommen, während sozioökonomische Krisenerscheinungen in den Westländern oder der auch dort wachsende Rechtsradikalismus nicht vergleichbar kritisch betrachtet werden.
In dem erwähnten UNION-Kommentar ging Kulturchefin Uta Dittmann auf die friedlich aufgelöste Einkesselung einer Demonstration auf der Dresdner Prager Straße am Abend des 8. Oktober ein. Unter der Vermittlung des damaligen Hofkirchenkaplans Frank Richter bildete sich spontan eine „Gruppe der 20“, die im Namen der etwa 4.000 Demonstranten am darauffolgenden Montagmorgen mit SED-Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer über Bürgerrechte und eine Umgestaltung der DDR verhandelte.
Die Wirkung dieses Meinungsbeitrags war enorm. Politisch konnte auch die SED hinter den plötzlich entdeckten „Dialog“ nicht mehr zurück. Parallel geriet die von der Staatspartei und ihren Gehilfen in den Blockparteien beherrschte Medienlandschaft in Bewegung. Unabhängig von Westrundfunk und Westfernsehen – soweit im DDR-Gebiet mit vertretbarem technischen Aufwand zu empfangen – schien sich auch in den hiesigen Redaktionen ein Gefühlsstau aufzulösen. Noch vor dem formalen Beitritt zur Bundesrepublik 1990 kam es zu einer Menage à trois zwischen Medienmachern in der Bundesrepublik, der Noch-DDR und ihren Lesern und Hörern in der ehemaligen „Zone“. Sie prägt bis heute die Unterschiede in der Berichterstattung wie auch der Mediennutzung.
Mit der Pressefreiheit kam in Ostdeutschland auch der Druck des Marktes
Binnen weniger Wochen mutierten die Zeitungen, die zuvor meist nur die Verlautbarungen des SED-Leitmediums Neues Deutschland wiedergaben, zu Leserbriefzeitungen. Über mehrere Seiten entwickelte sich eine authentische Volksaussprache. In der Aktuellen Kamera des DDR-Fernsehens täglich halb acht änderte sich der Tonfall. Die Jugendsendung Elf 99 gab es zwar schon seit dem 1. September, aber sie drehte nach dem Honecker-Rücktritt am 18. Oktober erst richtig auf, etwa mit der berühmten Reportage über das Regierungsghetto Wandlitz.
Die Volkskammer erhob am 5. Februar 1990 die Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit gar zur Staatsdoktrin; „Jegliche Zensur der Medien ist untersagt“ lautete ihr Kernsatz. Beeinflusst wurde die Doktrin vom rund 40‑köpfigen Medienkontrollrat staatsunabhängiger gesellschaftlich relevanter Gruppen, den der Runde Tisch vorgeschlagen hatte. Der Volkskammerbeschluss enthielt eine weitere bemerkenswerte Formulierung. „Zur Sicherung der Eigenständigkeit der Medien unseres Landes bedarf jede Eigentumsbeteiligung an Medien der DDR durch Ausländer der Genehmigung des Medienkontrollrates“, heißt es da.
Man ahnte wohl, was mit den Gesetzen des Marktes kommen würde. Und das kam auch. Denn die DDR-Presse wurde im Marxschen Sinn in die doppelte Freiheit entlassen. Kehrseite der Pressefreiheit war im März 1990 auch das Ende der staatlichen Subventionierung. Weit vor der Währungsunion am 1. Juli begann schon der Kampf um den ostdeutschen Medienmarkt, der bis heute anhält.
Versuchsballons der Westkonzerne: Stern-Chef und Bertelsmann-Vorstand rücken ins Dresdner Rathaus ein
Unvergessen, wie im Januar 1990 Stern-Chefredakteur Rolf Schmidt-Holtz und der stellvertretende Bertelsmann-Vorstandsvorsitzende Gerd Schulte-Hillen ins Dresdener Rathaus einrückten. Ihnen gegenüber saßen reformwillige oder einfach nur opportunistische Moderatoren des Senders Dresden und ahnungslose Bürgerbewegte der „Gruppe der 20“ und des Neuen Forum. Die West-Manager hatten Wind bekommen von den Bestrebungen, hier eine alternative Zeitung zu gründen, und sondierten offensichtlich, wie sie rechtzeitig einen Fuß in die Tür bekämen.
Das galt auch für die so selbstlos aussehenden Kooperationen westdeutscher Großverlage mit bestehenden kleineren Regionalzeitungen der DDR. Mit „Treppenhausblättern“ voller Werbung waren sie sofort präsent.
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Wie halbherzig aber die westdeutsche Unterstützung für die hochgelobte Revolution im Osten ausfiel, zeigt das Schicksal der etwa einhundert ähnlich demokratieromantisch inspirierten Zeitungsneugründungen in dieser Aufbruchsphase. Profi-Umsteiger und engagierte Quereinsteiger führten zu einer zuvor und danach nie wieder erreichten Pressevielfalt. Die erste und wohl bekannteste Neugründung war Die Andere Zeitung (DAZ), deren erste Ausgabe mit einer Auflage von 40.000 Exemplaren am 31. Januar 1990 in Leipzig erschien. Ostern 1991 gab sie wieder auf.
In Dresden suchte eine Gruppe um den späteren Oberbürgermeister Herbert Wagner (CDU) im Januar 1990 Hilfe in der Partnerstadt Hamburg. Nach Besuchen bei Bild, dem Hamburger Abendblatt und der Zeit fuhr man lediglich mit der Zusage des ersten Bürgermeisters Henning Voscherau (SPD) für zwei gebrauchte Computer nach Hause.
Wirksamere Hilfe kam vom Geschäftsführer der Deutschen Verlagsanstalt DVA Stuttgart, Ulrich Frank-Planitz, einem gebürtigen Sachsen. Dort wurde der Sachsenspiegel mit dem Anspruch, eine sächsische Zeit-Wochenzeitung zu werden, zwei Wochen vor der Volkskammerwahl am 18. März 1990 mit einer Auflage von 200.000 Exemplaren erstmals gedruckt. Auch er blieb ein Versuchsballon, am 19. April 1991 erschien die letzte Ausgabe.
Die „Freie Presse“ im Erzgebirge: Eine für westdeutsche Konzerne attraktive SED-Erbschaft
Es war aber auch keine dicke Mark zu verdienen mit den neuen Alternativen zur SED-Propagandapresse. Die Bürger waren auf einen raschen West-Beitritt aus, ihre Neugierde auf eine frische, unbefangene eigene Presse ließ bald nach. Man blieb lieber bei seinen vertrauten, aber zu Qualitätszeitungen gewendeten ehemaligen täglichen Bezirksorganen und ihren Regionalausgaben.
Zuviel war schon in der Gesellschaft, im Betrieb und im persönlichen Umfeld ins Rutschen geraten und begann, die D-Mark-Süchtigen zu überfordern. Das hatten westdeutsche Großkonzerne natürlich längst bemerkt und rissen sich nach Gründung der (Un-)Treuhand um die wieder lukrativ gewordene SED-Erbschaft mit Auflagen bis zu 600.000 Exemplaren wie die im Erzgebirgsraum verbreitete Freie Presse.
Dem wiederentdeckten Kontinuum im Leseverhalten Ost stand die erfolgreiche westdeutsche Verlockung durch Unterhaltung, Sex & Crime gegenüber. Das Buntgedruckte der vier größten Zeitschriftenverlage West Gruner + Jahr, Springer, Burda und Bauer verkaufte sich glänzend. Die Verleger versuchten sogar, die Position von Exklusiv-Lieferanten für die Noch-DDR zu erlangen. „Westdeutsche Medienunternehmen drückten mit brutaler Gewalt in den überaus attraktiven DDR-Markt. Sie alle, Glücksritter wie vorgeblich seriöse Unternehmer, versuchten hektisch, ihren Teil vom Kuchen abzubekommen“, beschrieb der Filmregisseur und medienpolitische Sprecher des Runden Tisches Konrad Weiß die Goldgräberstimmung.
Ein paar Ostgewächse konnten sich halten: „der Freitag“, der Leipziger „Kreuzer“ und die „SAX“
Nur wenige Eigengewächse Ost konnten sich jenseits der Kapitalriesen etablieren, wie der Freitag, gegründet als Fusion des Ostberliner Sonntag und der westdeutschen Volkszeitung. In Sachsen sind es eigentlich nur zwei kulturdominierte Stadtmagazine, der Leipziger Kreuzer als ehemalige Kulturbeilage der DAZ und die Dresdner SAX.
Der im Sommer 1991 abgeschlossene Treuhand-Verkauf der 14 ehemaligen SED-Bezirkszeitungen und die zum Jahresbeginn 1992 wirksame ARD-kompatible Rundfunkneuordnung zementierten die nahezu vollständige Übernahme der Medienlandschaft Ost.
Sie lässt sich einordnen in die Umwälzung der gesamten Besitzverhältnisse im Beitrittsgebiet. Die damit verbundenen mentalen Erosionen, die zunehmende Entfremdung, die ab 2019 statistisch nachweisbar schon als Wiederauseinandervereinigung bezeichnet werden kann, mussten auch beim Medienkonsum ihren Ausdruck finden. „Ein realistisches, ungeschminktes Bild des gesellschaftlichen Umbruchs im Osten und seiner lebenspraktischen Konsequenzen – daran fehlte es staatlicherseits und in den Massenmedien noch bis vor Kurzem ganz entschieden“, konstatierte der Soziologe Wolfgang Engler 2015 immer noch.
Westdeutsche Leitmedien konnten im Osten nicht Fuß fassen
Man hatte und hat mit sich zu tun. Der Mythos vom alles heilenden Westen und das Interesse an ihm erloschen bald. Überregionale westdeutsche Leitmedien konnten nicht einmal in der Wendezeit hier Fuß fassen. Noch 2021 fand eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung heraus, dass die Süddeutsche Zeitung nur 2,5 Prozent der Gesamtausgabe im Osten verkauft, die Frankfurter Allgemeine 3,4, der Spiegel immerhin vier Prozent. Das ist eine enorme Unterrepräsentation.
Nicht einmal Springers Bild konnte seine 1990 noch hohe Viereinhalbmillionenauflage durch neue Ost-Leser steigern. Es half also nichts, dass das Boulevardblatt beinahe jeden CDU-Abgeordnetentisch im Plenarsaal des Sächsischen Landtages schmückte.
Schon im Jahr 2000 stellte eine Studie des RTL-Vermarkters IP fest, dass Ostdeutsche länger fernsehen als Westdeutsche, sich mehr von Privatanbietern unterhalten lassen und sich bei den Öffentlich-Rechtlichen überwiegend regional oder lokal informieren.
Die „Zonen-Gaby“ der „Titanic“: Wer will schon auch diesen West-Spott?
Dieser Rückzug auf das Vertraut-Heimatliche in Zeiten großer Verunsicherung könnte auch mit der als herablassend empfundenen Berichterstattung über den unberechenbaren Osten zusammenhängen. Beginnend beim Spott der Satirezeitschrift Titanic 1989 über die „Zonen-Gaby“ und ihre erste Banane. In diesem Oktober 2025 empfanden laut MDR-Umfrage drei Viertel der Befragten die Berichterstattung über den Osten als negativ.
Die Universität Leipzig und die Hoferichter & Jacobs GmbH belegten das in einer umfangreichen Studie für den MDR. Medienwissenschaftlerin Mandy Tröger spricht von „vielen stereotypen oder sich wiederholenden Mustern wie Rechtsradikalismus, Arbeitslosigkeit oder Nörgelei“.
Selbst wenn vieles an dem Muster stimmt, tut es doch einem langlebigen Transformations- und Entwicklungsgebiet nicht gut. Die westdeutschen Verleger und Chefredakteure oder Intendanten hatten inzwischen erkannt, dass sie ostdeutsche Mentalitäten bedienen müssen, manche rechtzeitig, andere zu spät.
Die Zeit war schnell und fand in Christoph Dieckmann einen klugen und landeskundigen Reporter, installierte später ein Ostbüro. Der MDR köderte sein Publikum erfolgreich mit der Ausstrahlung von DEFA-Filmen und früherer Unterhaltungssendungen wie „Ein Kessel Buntes“, ist andererseits mit dem Portal „MDR fragt“ oder der Diskussionssendung „Fakt ist“ um aktuelle Problemdebatten bemüht.
Nunmehr kleingedruckt hält sich das nd in der Nachfolge des einstigen SED-Leitmediums Neues Deutschland hartnäckig mit konsequenter Links-Ost-Ausrichtung. Ähnliches ließe sich vom Freitag sagen. Wenig beachtet wird rückblickend, wie viele ehrliche, ambitionierte, aber eben nicht kommerzorientierte Journalisten 1990 ihre Parteiblätter übernahmen, die neue Freiheit kritisch nutzten und nach der West-Übernahme nicht selten kaltgestellt oder entsorgt wurden. Sie blieben sich in Nischen treu, sickerten wie beispielsweise freche Moderatoren des abgewickelten Jugendradios DT 64 beim ORB ein, sorgten vielerorts angesichts des herrschenden Master-Narratives für Originaltöne im Wortsinn.
Störrische Ossis ohne eigene Medien
Vieles davon hat sich inzwischen abgeschliffen. Wie ein letztes trotziges Aufbäumen erscheint rückblickend der dreiwöchige Streik bei der Sächsischen Zeitung im Advent 1999, der in der deutschen Nachkriegsgeschichte einzigartig blieb. Es ging gegen die aus Effizienzgründen geplante Ausgliederung der Lokalredaktionen und ihrer Treffpunkte, die gerade Breite und Bodenhaftung garantierten. Redakteure befürchteten unter anderem eine wachsende Abhängigkeit von Anzeigen der regionalen Wirtschaft. Gegen die im Vorjahr beschlossene und mit Entlassungen verbundene Übernahme der Sächsischen Zeitung durch Madsack – Ausdruck der fortschreitenden Gleichschaltung des Pressemarktes Ost – muckt niemand mehr offen auf.
Die Ostdeutschen wurden „ihrer eigenen Medien enteignet, wenn es denn bis dahin eine freie Öffentlichkeit gegeben hätte“, schrieb der Philosoph Jürgen Habermas 2020 in den Blättern für deutsche und internationale Politik. Soziologe Steffen Mau stellt fünf Jahre später in seinem Buch Ungleich vereint fest, in Ostdeutschland habe sich „eine eigene politische Kultur ausgebildet“. – „Warum verfügt der Osten dann nicht auch über eigene Medien“, fragt daraufhin der langjährige Medienexperte der sächsischen PDS und Linken und MDR-Rundfunkratsmitglied Heiko Hilker?