Nachdem Erik der Rote vor dem Jahr 1000 eine Expedition nach Grönland geführt hatte, lebten dort Wikinger. Archäologen haben drei Siedlungen identifiziert. Sie wurden ab dem 14. Jahrhundert aufgegeben. Über die Gründe gibt es verschiedene Theorien.
Unter den Inuit auf Grönland hat sich eine merkwürdige Geschichte erhalten: An einem Wintertag kam es in der Gegend des Ikka-Fjords zu einem Streit. Als der eskalierte, flohen vier Väter mit ihren Kindern auf das Eis. Das brach ein, und sie ertranken. Lange konnte man die Toten noch auf dem Meeresgrund sehen. Das soll auch heute noch an manchen Tagen der Fall sein. Dann, sagen die Leute, muss einer von ihnen sterben.
Die Episode könnte eine ferne Erinnerung an Auseinandersetzungen zwischen den Inuit und den Bewohnern einer Siedlung sein, von der sich am Ikka-Fjord Spuren von mehreren Höfen erhalten haben. „Bislang wurden mehrere Hauptgebäude, kleinere Nebengebäude sowie Ställe entdeckt“, schreibt der Archäologe Florian Huber in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Archäologie in Deutschland“. Die bis zu zwei Meter hohen Mauerreste dürften Spuren der sogenannten Mittelsiedlung sein, errichtet von Wikingern.
Von dieser Siedlung wurden bislang 41 Höfe identifiziert, die allesamt an der Küste lagen und kaum erforscht sind, schreibt Huber. „Die Bewohner lebten vor allem von Viehzucht und maritimen Ressourcen.“ Denn die steilen Hänge und wenig fruchtbaren Böden boten – neben dem strengen Klima – nur geringe landwirtschaftliche Möglichkeiten.
Die Mittelsiedlung war wohl eine Erweiterung der Ostsiedlung an der Südwestspitze Grönlands. Sie war die erste Niederlassung, die die Wikinger auf 60 bis 62 Grad nördlicher Breite auf der größten Insel der Welt errichteten. Wie mehrere isländische Sagas, die allerdings Jahrhunderte später verfasst wurden, berichten, geht das Unternehmen auf einen gewissen Erik den Roten zurück. Der hatte es auf Island so richtig krachen lassen, einschließlich eines Mordes (daher: der Rote), sodass es ihm ratsam erschien, die Insel zu verlassen.
Vielleicht war es der Hunger, der einige Landsleute dazu trieb, sich ihm anzuschließen. Von 25 Schiffen sollen vor dem Jahr 1000 14 Grönland erreicht haben. Dort wurde aus dem Tunichtgut Erik ein erfolgreicher Anführer (was den Verdacht erhärtet, dass die Sagas eine erfolgreiche Expedition zu personalisieren suchten), der seine Entdeckung „Grünland“ nannte. Zunächst wurde die Ostsiedlung angelegt. Von ihr sind bislang mehrere hundert Höfe nachgewiesen worden.
In Brattahlid (beim heutigen Qassiarsuk) am Tunulliarfik-Fjord errichtete Erik eine „Methalle“, in der er seine Führungsposition dadurch legitimierte, indem er seine Gefolgsleute regelmäßig zu Gelagen lud, was mit Treueschwüren vergolten wurde. Eriks Frau war Christin und ließ auf dem Areal eine kleine Kirche bauen und einen Friedhof anlegen. 1126 erhielt Grönland sogar einen Bischof.
Gut 600 Kilometer nordwestlich von der Ostsiedlung entstand die Westsiedlung. Von ihr wurden bis heute rund 100 Höfe identifiziert. Nach Huber lebten zu keiner Zeit mehr als 2000 bis 3000 Wikinger auf Grönland, andere Schätzungen gehen von bis zu 6000 aus. Diese bestritten ihren Lebensunterhalt mit Jagd, Fischerei und Landwirtschaft sowie mit dem Handel von Luxusgütern wie Walrosselfenbein, Narwalzähnen und Eisbärenfellen.
Da wegen des extremen Klimas kein Wald auf Grönland wächst, fehlte es jedoch an einem existenziellen Werkstoff: Holz, Grundlage für Haus- und Schiffbau. Da auch Island von seinen Bewohnern weitgehend entwaldet worden war, musste dieses kostbare Gut aus Norwegen importiert werden. Die Suche nach neuen Lieferquellen soll Eriks Sohn Leif bewogen haben, um das Jahr 1000 eine Expedition nach Westen zu unternehmen. Dabei stieß er nach einigen Tagen Fahrt tatsächlich auf Land, zunächst wohl auf der Baffininsel und dann auf Labrador, „von wo es nicht mehr weit nach Vinland ist“, wie es in einer isländischen Quelle heißt.
Archäologen haben in L’Anse aux Meadows an der Nordspitze Neufundlands die Spuren von Torfhäusern, wie sie bis vor kurzer Zeit noch auf Island gebräuchlich waren. Bootsnieten, die dort geborgen wurden, sind ein sicheres Zeichen dafür, dass die Siedlung auch als Werkstatt für Schiffsreparaturen diente. Aber weder ihre erprobte Gewaltbereitschaft, ihre Eisenwaffen noch ihr kluger Pragmatismus setzte die Wikinger in den Stand, sich gegen die „große Schar“ der Skrælingar auf die Dauer durchzusetzen, wie die wehrhaften Ureinwohner Amerikas in den Sagas genannt wurden.
Spätestens im 14. Jahrhundert traf es auch die Siedlungen auf Grönland. Wie Skelettfunde auf dem Friedhof von Brattahlid zeigen, herrschte auf der Insel ein Klima der Gewalt. In der Leiche eines Mannes steckte noch das Messer, das ihn tötete. Wie die Sagas berichten, könnte es auch zu verlustreichen Kämpfen mit den Inuit gekommen sein, die ab 1200 Grönland erreichten.
Forscher gehen von einem ganzen Bündel an Problemen aus, die den nordischen Siedlern das Leben schwer machten. Mit dem Aufkommen der „Kleinen Eiszeit“ sanken die Temperaturen. „Stürme und Treibeis nahmen zu, was Fisch- und Walfang sowie die Schifffahrt behinderte. Weideflächen versandeten durch Bodenerosion oder gingen durch lokalen Anstieg des Meeresspiegels verloren“, schreibt Huber. Und: „Luxusgüter wie Walrosselfenbein wurden durch das billigere und leichter verfügbare Elefantenelfenbein aus Afrika ersetzt.“
Weitere Gründe könnten Niederlagen gegen die Inuit und die Unfähigkeit gewesen sein, „sich an eine Ernährungsweise anzupassen, die dem sich verschlechternden Klima angemessen war“, schreibt der Wikinger-Spezialist Anders Winroth. Sein Kollege Rudolf Simek verweist auf Parasiten und Inzucht. Unlängst ergab eine Studie, dass es weniger die Kälte, sondern die zunehmende Trockenheit war, die aus dem „grünen Land“ Eriks des Roten eine dürre Welt machte, die das Vieh nicht mehr ernähren konnte.
Nach Ausweis ihrer archäologisch fassbaren Hinterlassenschaften wurden zumindest einige Höfe planvoll aufgegeben. Bereits um 1350 fand ein Priester die Westsiedlung menschenleer vor. Die letzte Nachricht von der Ostsiedlung stammt aus dem Jahr 1408. Damals heiratete Sigrid Björndottir einen gewissen Thorstein Olafsson, der aus Island stammte und seine Braut in seine Heimat mitnahm. Danach, so Huber, verlieren sich die Spuren der Wikinger auf Grönland.
Schon in seiner Geschichts-Promotion beschäftigte sich Berthold Seewald mit Brückenschlägen zwischen antiker Welt und Neuzeit. Als WELT-Redakteur gehörte die Archäologie zu seinem Arbeitsgebiet.
Source: welt.de