Wahlerfolge der AfD: Bodo Ramelow beklagt Pauschalurteile über Ostdeutsche

Nach den jüngsten kommunalpolitischen Wahlerfolgen der AfD hat Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow beklagt, dass über Ostdeutsche Pauschalurteile gefällt würden. „Was wir gerade erleben, ist eine teilweise Verzerrung der Realität“, sagte Ramelow der Thüringer Allgemeinen. „Aus skandalisierender Berichterstattung und verkürzten Analysen entsteht die falsche Wahrnehmung, dass die 52 Prozent der Wähler, die im Kreis Sonneberg für einen AfD-Landrat gestimmt haben, alles Nazis sein müssten.“

Der Linkenpolitiker sagte, es werde ausgeblendet, „welche sozialen und politischen Friktionen wir haben und was die AfD im Moment in ganz Deutschland hochtreibt“. Ramelow kritisierte einen Teil der überregionalen Medien. „Wenn ich den ganzen Tag mit Kamerateams in Sonneberg und Umgebung unterwegs bin und nach Nazis suche, dann finde ich die auch“, sagte er. „Und wenn dann jemand sagt, ich will Adolf Hitler wiederhaben: Solche Deppen gab es immer. Und es gibt sie auch in Westdeutschland.“

Erster AfD-Landrat in Thüringen

Der AfD warf Ramelow vor, allein auf negative Emotionen zu setzen. „Sie bündelt Ängste, Vorurteile und Aggressionen, was vor allem in Ostdeutschland funktioniert.“ Die anderen Parteien sollten auf deren Erstarken nicht mit gegenseitigem „Draufklopfen“ reagieren, sagte der Linkenpolitiker. Das gelte für die CDU, aber auch für seine Partei: So höre er in der Linken Forderungen, man sollte den Landkreis Sonneberg als Nichtdeutscher möglichst schnell verlassen. „Da habe ich zurückgefragt: Habt ihr sie noch alle?“  

In Wahlumfragen erreichte die AfD zuletzt einen Höhenflug – derzeit steht sie bundesweit bei etwa 20 Prozent. In Thüringen sind die Werte noch höher. Dort wurde im Landkreis Sonneberg der AfD-Politiker Robert Sesselmann zum ersten AfD-Landrat Deutschlands gewählt. In Raguhn-Jeßnitz in Sachsen-Anhalt wurde ein AfD-Politiker zum hauptamtlichen Bürgermeister bestimmt.

Joachim Gauck: Einige Ostdeutsche leben in einem „Zwischenreich“

Aus Sicht von Altbundespräsident Joachim Gauck kann man die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen nicht ignorieren. „Natürlich gibt es Anhänger nationalpopulistischer Gesinnung auch im Westen“, sagte Gauck in der ZDF-Talkshow Markus Lanz. „Aber diese sehr starke Rückbindung an autoritäres Geführtwerden, die ist da – und das lässt sich bei jeder Wahl belegen. Es gibt Leute, die sagen, wir sollen aufhören, von Ossis und Wessis zu sprechen, das kann man gern tun. Aber das Faktum ist: Es gibt eben diese Unterschiede.“

„Es sind keine Charaktermängel, die ‚die Ossis‘ da kollektiv haben – also Diktatur können alle“, sagte Gauck weiter. Aber gerade im Osten bleibe lange politische Ohnmacht nicht ohne Folgen. „Das, was die Demokratie uns erlaubt, ein Individuum in freier Selbstbestimmung zu sein und Eigenverantwortung zu trainieren, genau das Gegenteil wird in der Diktatur gefordert: Gehorsam und Anpassung.“

Während die Mehrheit der Ostdeutschen heute so ähnlich wähle wie die Menschen im Westen, habe eine große Minderheit den Abschiedsprozess vom Alten nicht abgeschlossen. „Sie sind in einem Zwischenreich, sie fremdeln mit dieser offenen Gesellschaft“, sagt Gauck. Das „Maß an Verunsicherung“ sei dort „ungeheuer groß“ und die traditionellen Parteien hätten in Zeiten der Krise nicht immer die „tröstenden Antworten“. Da sei es bequemer, wenn es Leute gebe, die sagen, „das wussten wir schon immer“. Für Menschen, die sich bemüht hätten, die DDR „abzuschütteln“, aber mit dem „Raum der Möglichkeiten“ nicht vertraut genug waren, sei es ein Trost, wenn ihnen jemand sage, „wo’s langgeht“. Sie hätten eine „Neigung zu Führern“, da sie von der Last befreit sein wollten, eigenverantwortlich zu handeln.

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