Wahlen in Großbritannien: Torys droht ein herber Absturz

Großbritannien wählt ein neues Parlament – zum ersten Mal, seit das Land aus der EU ausgetreten ist. Im nassen Sakko
hatte der amtierende Premierminister Rishi Sunak angekündigt, worauf die
Opposition seit Langem gewartet hat: einen Wahltermin. Den regierenden konservativen Torys drohen herbe Verluste, die oppositionelle Labour Party könnte nach jüngsten Prognosen eine absolute
Mehrheit erreichen. Welche Themen beherrschen den Wahlkampf? Wer tritt zur Wahl an? und warum ist tactical voting so wichtig? Antworten auf wichtige Fragen

Wann wird in Großbritannien gewählt?

Am 4. Juli wird in Großbritannien ein neues Unterhaus
gewählt. In 650 Wahlkreisen bestimmen Bürgerinnen und Bürger ebenso viele
Abgeordnete für das britische Parlament. Das besteht aus zwei Kammern: dem
Unterhaus (House of Commons), dessen Abgeordnete gewählt werden, und dem
Oberhaus (House of Lords), dessen Mitglieder meist auf Lebenszeit ernannt,
aber nicht gewählt werden.

Der Premierminister Großbritanniens hat das Recht, über den
Termin der Unterhauswahlen zu entscheiden. Das hat Rishi Sunak bereits getan: Er bat König Charles II. darum, das Parlament am 30. Mai aufzulösen.
Damit verloren alle Mitglieder des Parlaments ihren Abgeordnetenstatus. Wer seinen
Job behalten will, macht nun Wahlkampf und hofft auf eine Wiederwahl. Mehr als 130 Abgeordnete – die meisten davon Torys – haben jedoch bereits angekündigt, nicht
erneut antreten zu wollen
.

Ein großer Teil der Regierungsarbeit kommt in der Zeit bis zu den
Wahlen zum Erliegen. Während der früher oft als purdah bezeichneten Frist halten die Regierung,
die Ministerien und ihre Minister quasi die Füße still: Es werden in dieser
Zeit keine Ankündigungen gemacht oder Entscheidungen getroffen, die den
Wahlkampf beeinträchtigen könnten. Dabei handelt es sich jedoch nicht um
ein Gesetz, sondern um eine Konvention.

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Wieso gibt es Neuwahlen?

Die vergangenen Jahre waren in Großbritannien geprägt von Krisen. Da sind der schlechte Zustand des Gesundheitssystems NHS, der Brexit, der rasante Anstieg von
Lebensmittelpreisen (der Hand in Hand mit einer Stagnation der Reallöhne geht), schleppender
Wohnungsbau und eine hohe Zuwanderung. Die Bevölkerung des Königreiches traut
der Tory-geführten Regierung nicht mehr zu, die Probleme des Landes zu lösen. Wählerinnen
und Wähler straften die Konservativen bereits bei den jüngsten Kommunalwahlen ab: Die Torys verloren dort mehr als die Hälfte der Sitze, die sie zu verteidigen
versuchten.

Die Regierungszeit der Torys war zudem geprägt von
Skandalen. Zahlreiche konservative Abgeordnete machten in der vergangenen Legislaturperiode
Schlagzeilen wegen Missbrauchs- oder Vergewaltigungsvorwürfen oder
Verbreiten von Verschwörungstheorien. Aber nicht nur Abgeordnete, auch die Parteiführung geriet immer wieder in die Kritik. 

Allen voran Boris Johnson: Da waren Vorwürfe der Korruption und mutmaßlicher
Vetternwirtschaft bei der Vergabe von Verträgen für Coronaschutzkleidung, und natürlich
die Verstöße gegen die von seiner Regierung auferlegten Coronaschutzmaßnahmen,
die weltweit Schlagzeilen machten. Mehrere Partys soll Johnson während des
Lockdowns in seinem Amtssitz gefeiert haben, obwohl Treffen mit vielen Menschen verboten waren. Johnson musste zurücktreten

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Welche Parteien und Kandidaten treten zur Wahl an?

Die konservativen Torys: Erst kam David Cameron, dann
Theresa May, Boris Johnson, Liz Truss – die dabei auch noch den Rekord für die kürzeste Amtszeit in der Geschichte des Landes aufstellte – und schließlich Rishi Sunak. Seit 14
Jahren sind die Konservativen in der Regierungsverantwortung und stellen
Premierministerin oder Premierminister. Rishi Sunak will Premierminister bleiben –
er ist Spitzenkandidat der Partei. Er ist der erste Regierungschef des Landes
mit Migrationshintergrund und war vor seiner Ernennung zum Premierminister 2022
seit 2020 Schatzkanzler unter Boris Johnson.

Die größte Oppositionspartei: Die sozialdemokratische Labour Party stellte von 1997 bis
2010 ihren letzten Premierminister. Nun will ihr Spitzenkandidat und
Oppositionsführer Keir Starmer den Posten übernehmen. Im Parlament ist der
61-Jährige seit 2015, den Chefposten der Partei übernahm er 2020 nach der
Wahlniederlage von Jeremy Corbyn.

Die Rechtspopulisten: Neu im Rennen und mit guten Chancen,
zweitstärkste Kraft nach Labour zu werden, ist die rechtspopulistische Partei Reform UK. Gegründet hat sie Nigel Farage. Der EU-Skeptiker – und ehemaliger EU-Parlamentsabgeordneter
– hatte zuvor bereits die Brexitpartei Ukip gegründet. Farage wurde durch seine EU-kritische
Haltung international bekannt. Ins Unterhaus konnte er jedoch – trotz
mehrmaliger Versuche – nie einziehen. Vergangenes Jahr zog er dafür in das
britische Dschungelcamp.

Die Lib Dems: Die Liberaldemokraten haben gute Chancen, vor
allem im Westen und Süden des Landes Stimmen von den Torys abzugreifen. Dort wird
traditionell konservativ gewählt, die Menschen sind jedoch ebenfalls unzufrieden
mit der Regierung. Da viele Wählerinnen und Wähler dort aber nicht Labour
wählen würden, könnten sie ihre Stimme den Liberaldemokraten geben. Ihr
Spitzenkandidat ist Ed Davey. Er sitzt mit kurzer Unterbrechung schon seit 1997
im Unterhaus und war im Kabinett Cameron erster Minister für Energie und Klimawandel. 

Im britischen Unterhaus sitzen auch Abgeordnete von regionalen
Parteien. Sie vertreten die Partei Plaid Cymru aus Wales und die Scottish National Party
(SNP).

Die Green Party of England and Wales: Im britischen
Wahlkampf gehen die Grünen ziemlich unter, sind aber ohnehin nicht ansatzweise
so stark wie etwa die Grünen in Deutschland. In der vergangenen Legislaturperiode
gab es nur eine Abgeordnete der Green Party im Unterhaus. Und obwohl auch in
Großbritannien der vergangene Winter einer der wärmsten und nassesten war,
spielt der Klimawandel im Wahlkampf kaum eine Rolle.

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Was sagen die Umfragen?

Die Torys befinden sich im Absturz, die Frage ist nur noch:
Wie tief werden sie fallen? Nach 14 Jahren in der Regierungsverantwortung haben
die Konservativen die Wählergunst verloren. Das wurde schon nach der Niederlage
bei den Kommunalwahlen Anfang Mai klar. Jüngste Umfragen des britischen Meinungsforschungsinstituts YouGov sehen
die Partei nur noch auf Platz zwei mit 22 Prozent. 

Knapp überholt hatte sie der Umfrage zufolge wenige Wochen zuvor die rechtspopulistische Reform UK von Nigel Farage – aber nur für kurze Zeit. Sie kommt nun nur noch auf 15 Prozent. Klar auf Platz eins liegt Labour mit 39 Prozent. Die Liberaldemokraten kommen auf 12 Prozent, die Grünen auf sieben. Die Scottish National Party liegt bei drei, die walisische Plaid Cymru bei einem Prozent – was nicht bedeutet, dass die Parteien irrelevant sind. In ihren nationalen Parlamenten haben sie deutlich höhere Zustimmungswerte.

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Welche Themen stehen im Vordergrund?

Lebenshaltungskosten: Hohe Inflation hat den Menschen in Großbritannien mehr als zwei Jahre lang zu schaffen gemacht. Zwar steigen die Löhne mittlerweile
wieder schneller als die Inflationsrate, doch der Lebensstandard der Briten ist
niedriger als noch bei der vorigen Wahl im Jahr 2019. YouGov fragte Wählerinnen und Wähler Ende Mai, was sie als wichtigste Themen bezüglich der Wahl sehen. 45 Prozent nannten Lebenshaltungskosten, 31 Prozent zudem die Wirtschaft im Allgemeinen.

Gesundheitsversorgung: Das britische Gesundheitssystem NHS ist seit
Jahren Thema, denn es kann den Anforderungen seiner Patientinnen und Patienten nicht mehr nachkommen.
Für einfache Behandlungen und Termine müssen Versicherte oft wochenlang warten. Viele
Krankenhäuser leiden unter chronischem Fachkräftemangel. Kein Wunder also, dass Gesundheitsversorgung mit 34 Prozent der Umfrage zufolge das zweitwichtigste Thema vieler Briten bei dieser Wahl ist.

Migration: Immigration ist seit vielen Jahren ein wichtiges Thema für
Wählerinnen und Wähler in Großbritannien. Viele Briten wünschen sich von der
Regierung, dass irreguläre Migration eingedämmt wird und weniger Migranten die
Insel erreichen. Immigration landete bei der YouGov-Befragung auf Platz vier der wichtigsten Themen.

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Wie läuft die Wahl ab?

Die Wahllokale öffnen am 4. Juli um 7 Uhr morgens und schließen
erst am späten Abend um 22 Uhr. Während Millionen Bürgerinnen und Bürger ihre Stimmen abgeben, wird es in den britischen Medien ruhig: Am Wahltag ist
es ihnen zwischen 6 Uhr morgens und 22 Uhr abends nach Wahlrecht nämlich nicht mehr
gestattet, über den Wahlkampf zu berichten. Das soll für Fairness zwischen den Kandidaten sorgen. Worüber die britischen Medien hingegen berichten dürfen, sind
etwa wenig kontroverse Themen, wie Politiker, die ihre Stimme in Wahllokalen
abgeben oder das Wetter. 

Erste Hochrechnungen der Wahlergebnisse sind also erst nach 22 Uhr britischer Zeit
zu erwarten.

Für General Elections gibt es übrigens keine festgeschriebenen Daten. Premierministern
ist das Recht eingeräumt, das Datum für Neuwahlen selbst zu bestimmen. Es muss
lediglich innerhalb von fünf Jahren nach der konstituierenden Sitzung des Parlaments liegen. Spätestens nach diesen fünf Jahren wird das Parlament aufgelöst,
dann bleibt eine Zeit von 25 Werktagen, um sich auf die Wahl vorzubereiten. Innerhalb
der fünf Jahre kann der Premierminister aber selbst entscheiden, wann er das
Parlament auflösen und Neuwahlen ansetzen möchte.

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Was ist „tactical voting“ und wieso ist es wichtig?

Die Besonderheiten des britischen Wahlsystems führen dazu, dass Menschen ihre Stimme durchaus taktisch einsetzen. Das Mehrheitsprinzip first past the post bedeutet, dass in jedem Wahlkreis der Bewerber mit den meisten Stimmen gewählt ist und alle anderen Stimmen verfallen. Eine Zweitstimme wie in Deutschland, mit der nicht ein Kandidat, sondern eine ganze Partei gewählt wird, gibt es nicht. Das benachteiligt die kleineren Parteien: Selbst wenn beispielsweise 25 Prozent der Wähler für die Grünen stimmen, schlägt sich das im Wahlergebnis nicht nieder, solange die Grünenkandidaten auf Wahlkreisebene schlechter abschneiden als mindestens ein Mitbewerber. 

Beim tactical voting tun sich Anhänger verschiedener Parteien zusammen, um amtierende Kandidaten in einem Wahlkreis abzulösen. Dabei geben dann Wähler aus verschiedenen politischen Lagern ihre Stimmen dem Kandidaten, der die besten Chancen hat, den Amtsinhaber zu besiegen. 

Bei Nachwahlen im Jahr 2021 schafften es Wählerinnen und
Wähler etwa so, einen Toryabgeordneten in North Shropshire abzuwählen. Eine Liberaldemokratin kam in Prognosen auf Platz zwei, ihr fehlten Tausende Stimmen, um den Konservativen zu schlagen. Indem Wähler verschiedener anderer Parteien ihre Stimme der Kandidatin gaben, konnten sie den Konservativen stürzen.  

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Wann konstituiert sich das neue Parlament?

Nach Bekanntwerden der Wahlergebnisse beauftragt der König
die Partei mit den meisten Stimmen, einen Premierminister zu stellen und eine
Regierung zu bilden. Oppositionsführer wird der Parteichef der Partei mit den
zweitmeisten Stimmen. Erhält keine Partei eine Mehrheit an Abgeordneten und
kann dadurch keine Gesetze beschließen, kommt es zu einem sogenannten hung parliament. Die Partei mit den meisten Sitzen kann dann eine Koalition
eingehen oder als Minderheitsregierung arbeiten. Dabei muss sie sich für
Gesetzesvorhaben Stimmen anderer Parteien sichern.

Das neue Parlament soll am 9. Juli zusammenkommen. Dann wird
auch der Sprecher des Unterhauses gewählt und die Abgeordneten eingeschworen. Am
17. Juli wird das Parlament dann formell eröffnet. Dabei ist auch der Monarch anwesend und hält seine King’s Speech.

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Großbritannien wählt ein neues Parlament – zum ersten Mal, seit das Land aus der EU ausgetreten ist. Im nassen Sakko
hatte der amtierende Premierminister Rishi Sunak angekündigt, worauf die
Opposition seit Langem gewartet hat: einen Wahltermin. Den regierenden konservativen Torys drohen herbe Verluste, die oppositionelle Labour Party könnte nach jüngsten Prognosen eine absolute
Mehrheit erreichen. Welche Themen beherrschen den Wahlkampf? Wer tritt zur Wahl an? und warum ist tactical voting so wichtig? Antworten auf wichtige Fragen

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