Wahl in Großbritannien: Die Gründe zu Gunsten von die Talfahrt jener konservativen Tories

Es passiert nicht oft, dass eine Partei auf den letzten Metern des Wahlkampfes quasi implodiert. Die Konservative Partei im Vereinigten Königreich hat dieses Kunststück vollbracht. Zuletzt hat der Skandal um potentiell illegale Wetten auf den Wahltermin schwer geschadet, die Glücksspielkommission ermittelt. Labour führt laut allen Umfragen mit großem Vorsprung. Zusätzlich bedrängt die aufstrebende rechte Reform-Partei die Konservativen von Premierminister Rishi Sunak. Laut den Umfragen kann Labour auf einen Erdrutschsieg hoffen. Der Tory-Partei droht eine Vernichtung.

Das absehbare Ende der 14-jährigen Tory-Ära bedeutet eine politische Zäsur. Was ist das Erbe der 14 Jahre? Eine „gecrashte Wirtschaft“, sagen Labour-Chef Keir Starmer und Rachel Reeves, die als Labours Schatzkanzlerin vorgesehen ist. Tatsächlich sieht die wirtschaftliche Bilanz nicht gut aus für die Jahre seit 2010, in denen die Tories regierten (bis 2015 in einer Koalition mit den Liberaldemokraten).

Das Wirtschaftswachstum war schwächer als zuvor. Eine erhebliche Rolle spielten die Spätfolgen der Finanzkrise und der großen Rezession von 2008/2009, der Corona-Einbruch und die Energiepreiskrise infolge des Ukrainekriegs. Der Brexit ist ebenfalls ein viel diskutierter Faktor.

Für die Wähler zählt die sehr magere Bilanz

Vergeblich versucht Premier Sunak zu sa­gen, dass Großbritannien nach den schweren Schocks – Corona und Inflation – wirtschaftlich jetzt „die Kurve kriege“. Vergeblich sagt Finanzminister Jeremy Hunt in seinen Haushaltsreden immer wieder, dass Deutschland, Frankreich und Italien schwächeres Wachstum hätten. Für die Wähler zählt eben die sehr magere Bilanz ihres Landes.

Die Wirtschaftsleistung (BIP) je Kopf stieg seit 2010 durchschnittlich nur um 0,9 Prozent im Jahr, wobei das schwache Produktivitätswachstum seit der Finanzkrise entscheidend war. In den Jahren 1997 bis 2010 war es immerhin durchschnittlich 1,4 Prozent Zuwachs jährlich, rechnen Anna Valero und John Van Reenen, zwei Wirtschaftsprofessoren von der London School of Economics, in einer Analyse für das Centre for Economic Performance vor.

Getrieben durch das Be­völkerungswachstum aufgrund rekordhoher Zuwanderung wuchs die Gesamtwirtschaftsleistung seit 2010 zwar mehr. Doch die Pro-Kopf-Zuwächse blieben sehr bescheiden. Die Reallöhne der Mehrheit der Briten stagnierten mehr oder weniger.

„Verglichen mit den Jahrzehnten vor der globalen Finanzkrise war die Entwicklung der britischen Wirtschaft sehr schwach“, stellt auch Paul Johnson, der Di­rektor des angesehenen Thinktanks Ins­titute for Fiscal Studies, im gerade erschienenen Sammelband „The Conservative Effect“ nüchtern fest.

Er weist darauf hin, dass die britische Erfahrung „nicht einzigartig war“. Andere große Volkswirtschaften in Europa wie Deutschland und Frankreich haben ebenfalls „historisch niedriges Wachstum“ in dieser Zeit erfahren. Die britische Schwäche findet er dennoch außergewöhnlich. „Das Fehlen eines Reallohnwachstums ist beispiellos in den letzten 200 Jahren der britischen Wirtschaftsgeschichte“, stellt Johnson fest.

Infrastruktur und Schulen haben unter den Austeritätsjahren gelitten

Was sind die Ursachen? Woran lag die lange Flaute des Produktivitätswachstums? Ein Grund liegt in der seit Langem schwachen Investitionstätigkeit. In den Jahren 2010 bis 2015 vollzog die liberal-konservative Koalitionsregierung von David Cameron und Nick Clegg einen harten fiskalischen Konsolidierungskurs und kürzte Staatsausgaben stark. Um die rekordhohen Defizite nach der Finanzkrise abzubauen, setzte Finanzminister George Osborne auf einen rigorosen Sparkurs.

Nicht nur die Linke beklagte die schmerzhaften Austeritätsjahre. Infrastruktur, Schulen, Krankenhäusern und Kommunen haben darunter gelitten. Der Staat kürzte öffentliche Investitionen und Leistungen, allerdings nicht für Rentner; diese sind eine der wenigen Gruppen, deren reale Einkommen gestiegen sind. Die private Wirtschaft hielt sich mit Inves­titionen ebenfalls stark zurück, obwohl Osborne die Körperschaftssteuer senkte. Großbritanniens Investitionsquote fiel seit der Rezession von 2008/2009 unter das Niveau der anderen G-7-Länder. IFS-Direktor Johnson spricht von „chronischer Unterinvestition“.

Unter Premierminister Boris Johnson begann 2019 eine scharfe Wende der staatlichen Ausgabenpolitik. Schon seine Vorgängerin Theresa May und ihr Finanzminister Philipp Hammond hatten den Austeritätskurs beendet. Premier Johnson, der es gern krachen ließ, drehte nun den Geldhahn voll auf und versprach „Levelling up“: die staatliche Förderung zurückgebliebener, ärmerer Landesteile. Eine „neue Ära“ in der Steuer- und Ausgabenpolitik brach an. Allerdings durchkreuzte der Ausbruch der Pandemie mit den ersten Lockdowns von Frühjahr 2020 an viele Pläne.

Kritischer Blick auf die staatlich bezahlte Beurlaubung

Der damalige Finanzminister Rishi Sunak legte staatliche Corona-Hilfsprogramme ungekannten Ausmaßes vor, die in den Jahren 2020 bis 2022 mehr als 300 Milliarden Pfund kosteten. Das „Furlough“-Programm (staatlich bezahlte Beurlaubung) bewirkte, dass Unternehmen ihre Mitarbeiter trotz Schließung der Betriebe nicht entließen, sondern fast alle Stellen erhalten blieben.

Einige Ökonomen sehen das rückwirkend kritisch, weil auch viele unrentable Arbeitsplätze subventioniert und erhalten blieben. Während der Energiepreiseexplosion 2022 und 2023 gab die Regierung den Haushalten sehr hohe Zuschüsse. Die „Energiepreisgarantie“ kostete den Staat geschätzt 37 Milliarden Pfund – alles schulden­finanziert. Inzwischen ist die Schul­den­quote fast auf 100 Prozent der Wirt­schaftsleistung geklettert.

Wirtschaftspolitischer Zickzackkurs

Die vergangenen 14 Jahre waren wirklich eine Achterbahnfahrt“, sagt der junge Historiker Tom Egerton, der zusammen mit Anthony Seldon das Buch „The Conservative Effect“ herausgegeben hat. Im Untertitel heißt es „14 verlorene Jahre“ – mit Fragezeichen. Was auffällt, ist ein wirtschaftspolitischer Zickzackkurs. Nach dem Austeritätskurs von Cameron/Osborne folgte die interventionistische Kehrtwende unter Johnson. Aus der Partei von Margaret Thatcher, die den schlanken, sparsamen Staat wollte, wurde die Partei des „big spending“, der großen Ausgaben – und der steigenden Steuern.

Auf Johnsons Fall und Abgang im Sommer 2022 folgte die chaotische Periode von Liz Truss. Die Kurzzeit-Premierministerin scheiterte im September 2022 mit ihrem „Mini-Budget“, einer defizitfinanzierten Steuersenkungsorgie mit etwa 45 Milliarden Pfund Volumen, weil die Finanzmärkte zu große Haushaltslöcher fürchteten. Das Pfund stürzte ab, die Zinsen stiegen, die Notenbank musste intervenieren. Klagen über das „Truss-Desaster“ sind bis heute ein Wahlkampfschlage von Labour.

Rishi Sunak und Finanzminister Hunt gelang es, die Finanzmärkte recht schnell wieder zu beruhigen. Der Preis dafür waren aber höhere Steuern, um Defizite abzubauen. Inzwischen ist die durchschnittliche Steuerquote der Briten mit gut 36 Prozent auf das höchste Niveau seit 1950 gestiegen – und sie legt wegen der kalten Progression weiter zu, da Freibeträge und Steuerstufen eingefroren sind. Auch Labour will das beibehalten. Die Klagen über die hohen Steuern schaden aber vor allem der Konservativen Partei stark, weil sie an ihrem Selbstverständnis kratzen.

Eine Dauerklage der Bürger: der Zustand des Gesundheitsdienstes NHS

Da hilft es auch wenig, dass Hunt beispielsweise den stabilen Arbeitsmarkt als Erfolg preist. Trotz Corona-Einbruchs und Energiepreiskrise herrschte durchgängig praktisch Vollbeschäftigung mit nur etwas mehr als 4 Prozent Arbeitslosigkeit. Wobei es eine hohe Zahl von Sozialhilfeempfängern gibt, die als nicht erwerbsfähig gemeldet sind.

Der Zustand des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS mit den langen Wartezeiten für Patienten ist eine Dauerklage der Bürger. Die oberste Sorge der vergangenen zwei Jahre war indes der Anstieg der Lebenshaltungskosten. Dass die Inflationsrate in Großbritannien aktuell auf 2 Prozent zurückgefallen ist, bringt den Tories nur wenig Applaus. Die „Cost of Living Crisis“ sei für Millionen Briten nicht vorbei, wettert Labour-Finanzsprecherin Reeves.

Während Corona und hohe Inflation viele Länder getroffen haben, wirkte in Großbritannien noch ein Sonderfaktor: der Brexit. Beschlossen mit knapper Mehrheit im Referendum vom Juni 2016 und endgültig vollzogen Ende 2020 hat der Brexit das Land bis heute gespalten. Die Horrorprognosen einiger Ökonomen und Brexit-Gegner, die von einer unmittelbaren schweren Rezession ausgingen, trafen nicht ein. Doch der EU-Austritt hat zweifellos wirtschaftlich geschadet. Zum einen weil die lange Phase der Unsicherheit nach 2016 Investoren verschreckte, zum anderen wegen neuer Handelsbarrieren gegenüber Europa. Zudem haben EU-Ausländer das Land verlassen, einige britische Branchen klagen deshalb über Ar­beitskräfteengpässe.

Im Handel sind die Bremsspuren unübersehbar

Laut einer groben Schätzung des Office for Budget Responsibility könnte der Brexit das wirtschaftliche Potentialwachstum Großbritanniens mittelfristig um 4 Prozent senken. Allerdings sind solche Schätzungen umstritten. „Es ist unglaublich schwierig, die Brexit-Auswirkungen von anderen Wachstumsfaktoren seit 2016 zu trennen“, gibt IFS-Direktor Johnson zu bedenken. Wie viel auf das Brexit-Konto geht, ist unklar. Vor allem die Bremsspuren im Handel sind unübersehbar.

„Insgesamt hat sich der Brexit negativ auf den britischen Handel ausgewirkt. Aber bisher war dieser Effekt geringer als von Ökonomen erwartet“, schreiben drei Wirtschaftsprofessoren um Dennis Novy von der Universität Warwick in einer Analyse für das LSE-Centre of Economic Per­formance. Die britischen Gesamtexporte sind nach ihren Berechnungen gleich schnell gewachsen wie die Exporte an­derer europäischer Volkswirtschaften seit 2016, vor allem weil die Serviceexporte stark zulegten. Preisbereinigt sanken die britischen Warenexporte minimal, um ein Prozent.

Der Handel mit EU-Ländern brach allerdings zum Teil stark ein. Gerade kleinere und mittlere Unternehmen haben sich zurückgezogen, die mit der neuen Zollbürokratie nicht zurechtkommen. „Für kleine Firmen hat das (Brexit-Abkommen) CTA die Exporte um etwa 30 Prozent reduziert, aber es hatte keinen Effekt auf die Exporte der großen Unternehmen in die EU“, so das Fazit der drei Ökonomen für das LSE-Zentrum. Neue Freihandels­abkommen, welche die Tory-Regierung mit Japan, Australien und Neuseeland geschlossen hat und über die sie mit den Asien-Pazifik-Staaten und mit Indien verhandelt, können den verringerten EU-Marktzugang nicht kompensieren. „Global Britain“ als Strategie für den internationalen Handel sei eine „Fantasy“, eine Fiktion, meinen die LSE-Ökonomen.

Labours Devise: „Make Brexit Work“

Im Wahlkampf haben die großen Parteien, die Konservativen und Labour, das Thema Brexit weitgehend gemieden. Premier Sunak gab zu, dass Brexit-Wähler „zu Recht enttäuscht und verärgert“ sein könnten – vor allem mit Blick auf die Migrationszahlen. Die Labourspitze fasst das Thema Brexit nur mit spitzen Fingern an. Im Wahlprogramm der Partei taucht das Stichwort nur ein einziges Mal auf, weit hinten, auf Seite 117.

Der mutmaßlich nächste Premier Starmer hat die Devise „Make Brexit Work“ aus­gegeben. Er will die Beziehungen mit EU-Staaten verbessern. Einen Wiederbeitritt zum EU-Binnenmarkt oder zur Zollunion schließt Labour aber explizit aus. Schattenschatzkanzlerin Rachel Reeves äußerte vage, sie wolle Handelshürden gegenüber der EU abbauen. Wie das konkret gehen soll, verrät sie nicht. Was Labour plane, sei in jedem Fall zu wenig, findet Anand Menon, der Chef des Thinktanks UK in a Changing Europe.

Die Stimmung im Königreich ist gedämpft vor der Wahl. Das Schlagwort „Broken Britain“ machte die Runde. Manche Klagen sind nicht durch Fakten gedeckt, etwa die Behauptung, man sei wirtschaftliches Schlusslicht Europas geworden. Finanzminister Hunt verweist auf die Daten des Internationalen Währungsfonds, wonach das Königreich in den Jahren 2016 bis 2024 mehr gewachsen ist (um rund 8 Prozent) als andere große europäische Länder. Deutschlands Wirtschaftswachstum war fast nur halb so hoch. Auch Italien wuchs weniger als Britannien, Frankreich etwa gleich viel.

Die Schwächer der anderen ist für die Briten kein Trost

Aber die Schwäche der anderen ist für die Briten kein Trost. Auch nicht dass die IWF-Ökonomen Großbritannien für die Jahre 2024 bis 2029 höhere Wachstumsraten vorhersagen als Deutschland, Frankreich, Italien und Japan. Angesichts der schwachen Reallohnentwicklung sind die Wähler auf der Insel einfach unzufrieden.

Labour hat im Wahlkampf zentral das Versprechen von mehr Wachstum propagiert. Das „G-Wort“ (Growth) soll für Rachel Reeves, die Schattenschatzkanzlerin, oberste Priorität haben. Sie peile 2 Prozent Wirtschaftswachstum an, sagte sie. Das wäre doppelt so viel wie im vergangenen Jahrzehnt. Volkswirte halten das für nicht realistisch. Die Ökonomen von Oxford Economics monieren, die Programme beider großer Parteien würden das reale Wachstumspotential des Landes kaum verändern. Die Lage der öffentlichen Finanzen ist sehr angespannt, viele Milliarden an Kürzungen sind in den kommenden Jahren noch nicht spezifiziert.

Daher wird es sehr eng für die künftige Schatzkanzlerin Reeves. Große „schwarze Löcher“ in den Budgetplänen sieht der Finanzwissenschaftler Paul Johnson vom Ins­titute for Fiscal Studies. Er wirft beiden Parteien „eine Verschwörung des Schweigens“ vor. Sie wollten den Wählern nicht die Wahrheit sagen. Bleibe das erhoffte Wachstum aus, müsse Labour entweder die Steuern erhöhen oder Ausgaben kürzen. Für die Wähler wäre das eine kalte Dusche.

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