Wahl in Frankreich: Macrons Wirtschaftsreform frustriert

Guillaume de Goÿs hat im Blick, was sich rund um den Hafen tut. Als er vor zehn Jahren die Geschäftsführung der Aluminiumhütte Dünkirchen übernahm, sei die Stimmung hier an der Nordseeküste schlecht gewesen, erinnert er sich. Mit der Industrie sei es abwärts gegangen, Fabriken seien geschlossen und das Personal vor die Tür gesetzt worden. Nun gehe es wieder aufwärts.

Ob durch das Chemieunternehmen Flocryl, das Batteriezellen-Start-up Verkor oder den Frittenhersteller Clarebout – direkt neben der Aluminiumhütte wird investiert und gebaut. „Alle drei Fabriken existierten vor zwei Jahren noch nicht“, betont de Goÿs. „Die Reindustrialisierung ist eine Realität“, sagt er.

Was ihn und andere Industrievertreter auch freut: Das angrenzende Kernkraftwerk Grave­lines gehört zu den drei prioritären Standorten, an denen neue Reaktoren geplant sind. Das verspricht auch in Zukunft preiswerten, dekarbonisierten und dauerhaft verfügbaren Strom.

Keine industrielle Revolution, aber ein Anfang

Zweifellos ist Dünkirchen ein besonderes Musterbeispiel dafür, was sich in den bisher sieben Jahren unter Präsident Emmanuel Macron in Frankreich wirtschaftlich getan hat. Neben Verkor will hier auch das taiwanische Unternehmen Prologium bald mehr als 5 Milliarden Euro in eine neue Batteriezellfabrik investieren.

Ebenfalls in die Milliarden geht der geplante Bau von drei Fabriken für Batteriekomponenten durch das chinesisch-französische Konsortium XTC-Orano. Die Zahl der Industriearbeitsplätze in der Gegend soll sich in den kommenden Jahren auf rund 40.000 verdoppeln.

Erfolgsgeschichten wie diese gibt es auch in anderen Landesteilen. Eine knappe Autostunde südlich von Dünkirchen stehen schon zwei Batteriezellfabriken, weshalb die Region Hauts-de-France neuerdings als „Battery Valley“ tituliert wird. Der dänische Pharmariese Novo Nordisk kündigte in diesem Frühjahr eine Groß­investition in Chartres an. In der Nähe von Grenoble nahm mit der 7,5 Milliarden Euro teuren Halbleiterfa­brik von Global Foundries und ST Microelectronics Frankreichs größtes Industrieprojekt seit Jahrzehnten die Produktion auf.

Der Industrieanteil an der Wirtschaftsleistung ist in Frankreich heute mit kaum mehr als 10 Prozent nur noch halb so hoch wie in Deutschland. Doch nach einem jahrzehntelangen Abwärtstrend seien unter Macron 300 neue Fabriken eröffnet und 90.000 Stellen im verarbeitenden Gewerbe geschaffen worden, rechnet der Elysée-Palast stolz vor. Das meint vor allem gut bezahlte Stellen mit hoher Wertschöpfung. Es ist noch keine industrielle Revolution, aber ein Anfang.

„Wichtige Strukturreformen“

Ein wichtiger Grund für die Unternehmen: Macron knapst nicht mit Fördergeld. Allein das Zukunftsprogramm France 2030 sieht Zuschüsse in Höhe von 54 Milliarden Euro vor, von denen mehr als die Hälfte schon verplant sind. Die Investitionskosten für die Halbleiterfabrik nahe Grenoble wurden zu knapp 40 Prozent subventioniert.

Das ist ein weiterer Grund, warum der französische Staat hoch verschuldet ist. In den Macron-Jahren stieg die Staatsverschuldung von 98 auf 110 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Es allein erklärt aber nicht, warum Frankreich sich seit 2017 wirtschaftlich besser entwickelt hat als in Vorjahren und auch besser als der Nachbar auf der anderen Rheinseite, mit dem man sich so gerne vergleicht.

Warum die Arbeitslosenquote, trotz der im Industrieländervergleich weiter hohen Steuer- und Abgabenlast, zumindest ein Stück weit auf rund 7,5 Prozent gesunken ist. Warum die Berater von EY das früher als bürokratisch verschriene Land nun fünfmal nacheinander zu Europas beliebtestem Standort für ausländische Investoren gekürt haben.

„Frankreich hat in den letzten Jahren wichtige Strukturreformen umgesetzt“, sagt Armin Steinbach, Professor für Recht und Steuern an der Pariser Wirtschaftshochschule HEC. Das gelte vor allem für die Felder Arbeitsmarkt, Rente und Steuern. So wurde zu Beginn von Macrons Präsidentschaft das Arbeitsrecht reformiert.

Arbeitgeber können sich seither etwas leichter von Mitarbeitern trennen und müssen nicht mehr lange Prozesse fürchten mit offenem und oft teurem Ausgang. Arbeitnehmer haben dafür schon nach acht statt erst zwölf Monaten Betriebszugehörigkeit das Recht auf Abfindungen, die zudem für die ersten zehn Jahre im Unternehmen von mindestens 20 auf 25 Prozent des Monatsgehalts je Jahr angehoben wurden.

Die betriebliche Ausbildung wurde erfolgreich nach deutschem Vorbild umgestaltet, die Zahl der Lehrlingsverträge hat sich unter Macron verdoppelt. Zu den ­Sozialreformen zählen die von vier auf sechs Monate erhöhte Mindestbeschäftigungsdauer, um Arbeitslosengeld beziehen zu dürfen, und die hoch umstrittene Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre. Zu den Steuerreformen zählt die Senkung der Körperschaftsteuer von 33,33 auf 25 Prozent.

Von Platz 6 auf 15

Von Konzernen bis zu deutschen Mittelständlern und Start-ups wie Pfeiffer Vacuum, Claas oder Marvel Fusion – ausländische Investoren sind voll des Lobes für Macrons Wirtschaftspolitik. Sie betonen einen verbesserten sozialen Dialog, den guten Draht zu Elysée-Palast, Ministerien und Behörden und können sich jedes Frühjahr über eine Einladung zu Macrons pompösem Investitionsgipfel „Choose France“ ins Schloss von Versailles freuen.

Beim Wähler verfängt all das nicht. Schon bei den Europawahlen spielten derlei Wirtschaftsthemen keine nennenswerte Rolle, auch nicht im Wahlkampf für die von Macron sehr kurzfristig angesetzte Parlamentswahl, die am Sonntag in die erste Runde geht.

Die Frage der Arbeitslosigkeit sei von der Prioritätenliste der Franzosen verschwunden, zitiert die Wirtschaftszeitung „Les Echos“ den Meinungsforscher Jérôme Fourquet. Habe sie bei den Europawahlen 2019 noch auf Platz 6 gestanden, rangiere sie nun weit hinten auf Platz 15. Das kann man als Folge der Reformen sehen. So finden es nach Fourquet nur noch zwei von fünf Franzosen schwer, im Falle eines Arbeitsplatzverlustes eine neue Stelle zu finden – viel weniger als früher.

Der starke Zuspruch mag überraschen

Doch es dominieren mit der Migration und der inneren Sicherheit Themen, die der rechtspopulistische Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen schon seit Jahren in den Vordergrund rückt. „Die Ablehnung der Einwanderung ist der wichtigste Erklärungsfaktor für die Wahl des RN“, erklärte die Politologin Nonna Mayer in der Zeitung „Le Monde“. Hinzu kommt der von den Rechtspopulisten angeprangerte Kaufkraftverlust sowie ein genereller Unmut über den als ­arrogant, elitär und belehrend empfundenen Präsidenten.

So kommt es, dass auch die Menschen in Regionen mit neuen Industrieanlagen nicht bei den Macronisten ihr Kreuz machen. Das Diktum von Wirtschaftsminister Bruno Le Maire, wonach der RN überall dort, wo eine Fabrik geschlossen wird, unmittelbar seine Präsenz ausbaue, gilt nicht in die entgegengesetzte Richtung.

In Gravelines bei Dünkirchen etwa stimmten bei den Europawahlen nahezu 50 Prozent für die Rechtspopulisten und kaum mehr als 10 Prozent für die Macronisten. Das ist ein klares Votum gegen den Präsidenten und seine Politik. Weiter südlich, wo Le Pen ihre Wahlheimat hat, erreichen die Rechtspopulisten mehr als 60 Prozent.

Der starke Zuspruch für den RN mag mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung an der Nordseeküste in der Tat überraschen, sagt Bertrand Ringot, der Bürgermeister von Gravelines. Niemand könne leugnen, dass die Reindustrialisierung Früchte trage.

Doch dann zählt Ringot auf, was viele Menschen in seiner 11.000-Seelen-Kommune im Alltag nun mal bewege, angefangen beim Lohnniveau über die Schließung von Arztpraxen und die verschlechterte Schulbildung bis hin zur schwierigen Wohnungssuche. Und ja, dann seien da gerade hier an der Küste unweit von Calais eben noch die starken Migrationsströme nach Großbritannien und die Kriminalität.

Frappierende Zusammenhänge

„Man kann nicht leugnen, dass es Pro­bleme mit der Sicherheit gibt“, sagt der Bürgermeister, selbst ein Sozialist alter Schule. „Vor 20 Jahren hatte ich in Gravelines eine Polizeistation mit einem Kommissar. Heute habe ich immer noch eine Polizeistation, aber keinen Kommissar mehr.“ Solche Zuständigkeiten seien in den größeren Städten zentralisiert worden.

Im Lichte all dieser Probleme müsse man die Wahlergebnisse betrachten, sagt Ringot. In Gravelines, wo vor zwölf Jahren in der Präsidentenwahl noch mehr als 60 Prozent für den Sozialisten François Hollande gestimmt haben, ist der RN heute obenauf. „Es gibt eine Verärgerung in der Bevölkerung“, resümiert der Bürgermeister und beschreibt den idealen Nährboden für Populisten.

Die Europawahlen haben deutlich gezeigt, wie verbreitet diese Verärgerung und das Gefühl der „Deklassierung“ außerhalb der Pariser Metropole ist, sagt Ludovic Subran, der Chefökonom der Allianz. Die Gegensätze „Landbevölkerung gegen Stadtbevölkerung“ und „sozial niedrigere gegen höhere Schicht“ seien klar erkennbar, die statistisch messbaren Zusammenhänge frappierend.

Je höher die Bevölkerungsdichte, der Anteil der Jugendlichen oder die Einkommen, desto niedriger sei die Zustimmung für den RN. Je höher der Anteil der Einwanderer und die Arbeitslosigkeit, je weiter die Entfernung zum nächsten Krankenhaus, desto mehr Stimmen erhalte der RN. Die Ablehnung von „grüner“ Politik komme noch hinzu. „Einwanderung ist ein Thema, aber es ist eben nicht unbedingt das Hauptthema“, analysiert Subran.

Verfestigte Eindrücke sind schwer zu ändern

Vorherrschend sei in großen Teilen der Mittelschicht der Eindruck, dass der Präsident für die Unternehmen viel und für die Menschen wenig getan hat und dass man trotz der zusätzlichen staatlichen Milliardendefizite verloren hat, sagt der Ökonom.

Und das wohlbemerkt, obwohl die Inflation und Kaufkraftverluste dank staatlicher Eingriffe zuletzt viel geringer waren als etwa in Deutschland. Auch die im Gini-Koeffizient ausgedrückte Einkommensungleichheit hat nur minimal zugelegt. Doch verfestigte Eindrücke sind schwer zu ändern.

Schon in früheren Wahlen und Protestbewegungen wie den „Gelbwesten“ oder den Demonstrationen gegen die Rentenform spielte das reine Gefühl der „Deklassierung“ eine wichtige Rolle. Die Milliardengewinne und hohen Dividendenausschüttungen von Konzernen wie Totalenergies, Stellantis oder LVMH haben den Unmut weiter befeuert. Ein latentes Meckern ist den Franzosen nicht wesensfremd.

Das brauche Zeit

Fast drei von vier ausländischen Direktinvestitionen seien zuletzt in Kommunen mit weniger als 20.000 Einwohnern geflossen, heißt es von der französischen Regierung. Außer Kreisverkehren und Einkaufszentren gebe es in vielen Landstrichen aber nichts mehr, betont Subran, der den Abwärtstrend in seiner Heimat in Südwestfrankreich entlang der Garonne selbst mit angesehen hat.

Wo die Wirtschaft sich wie in den Hauts-de-France wieder positiv entwickelt, könne man die Menschen wieder aus den Armen der Populisten befreien, meint Subran, etwa mit Initiativen zur Förderung des Unternehmertums und privat-staatlicher Kofinanzierung von Infrastruktur. Doch das brauche Zeit.

Ökonom Steinbach spricht vom „Fluch der Ungleichzeitigkeit von Reform und Reformeffekt, der politisch sehr kostspielig ist“. So ähnlich war es bei den Hartz-Reformen des deutschen Kanzlers Gerhard Schröder, deren positive Wirkungen sich erst weit nach seiner Abwahl zeigten.

Vor der von Macron angesetzten Parlamentsneuwahl fehlt diese Zeit. Der Präsident wurde 2022 zwar für eine zweite Amtszeit wiedergewählt. Doch hat er es in den vergangenen sieben Jahren nie wirklich vermocht, seine Landsleute von der Notwendigkeit von Reformen zu überzeugen.

Die von seiner Sprunghaftigkeit überrumpelten Mitstreiter haben es in dem kurzen Wahlkampf nicht geschafft, die jüngsten Wirtschaftserfolge ins Zentrum der Debatte zu rücken. Die Bühne gehört den Populisten. „Es ist die Wirtschaft, Dummkopf!“ – der alte Spruch von Bill Clintons Berater sei noch nie so falsch wie in diesem Wahlkampf gewesen, bilanzierte jetzt „Les Echos“.

AbfindungenAbgabenlastAllianzArbeitnehmerArbeitslosigkeitArbeitsmarktArbeitsrechtArminAusbildungAusländische InvestorenBauBehördenBevölkerungBillBrunoBruno LeDemonstrationenDeutschlandEinkommenEinwanderungEmmanuelEuroEuropawahlenFabrikenFrankreichGerhardGroßbritannienIndustrieInflationInfrastrukturKernkraftwerkKommunenKrankenhausKriminalitätLangeLVMHMacronMaireMANMayerMigrationNovo NordiskPenPolitikProzesseRassemblement NationalRechtReformenRegierungRenteSchuleSelbstStStart-upsStellantisSteuerSteuernStromUnternehmenWahlWahlenWahlergebnisseWahlkampfWirtschaftwirtschaftliche EntwicklungWirtschaftspolitikZeit