VW-Krise – Erfahrungsbericht aus dem VW-Werk Baunatal: In Kassel geht die blanke Angst um!

Ein Kollege erklärt die Situation mit folgenden Worten: Du versicherst dein Haus bis 2029 gegen Brand, aber als die Hütte 2024 lichterloh in Flammen steht, sagt die Versicherung: Der Vertrag ist ungültig. So fühlt es sich an, seitdem uns das VW-Management die Beschäftigungsgarantie gekündigt hat.

Seit 1984 arbeite ich im Volkswagen-Werk Kassel. Hier habe ich meine Ausbildung zum Betriebsschlosser gemacht, arbeitete „am Band“ und war anschließend viele Jahre in der Gießerei beschäftigt. Heute bin ich Vertrauensmann der IG Metall – wie schon mein Vater, der sein halbes Leben bei VW verbracht hat.

Damals stand der Job für Zukunft und Sicherheit im Alter. Jetzt geht bei jungen und älteren Beschäftigten in Baunatal die blanke Angst um. Die Jüngeren wissen, dass sie angesichts des Personalabbaus in der deutschen Automobilindustrie so schnell keinen guten Job mit ordentlichem Tarifvertrag mehr finden werden. Vor allem nicht hier in Nordhessen. Deswegen sehen sie sich ab nächstem Jahr schon Frikadellen braten bei McDonald’s oder im Dauerlauf von Haustür zu Haustür laufen für Amazon. Auch wir, die Älteren, fühlen uns nicht mehr sicher. Zurzeit wird vonseiten der Werksleitung zur Jagd auf den hohen Krankenstand geblasen. Dabei ist das Gegenteil das Problem: Zu viele Kollegen schleppen sich trotz Krankheit ins Werk. Trotzdem machen wir gerade kollektiv „Dienst nach Vorschrift“ und tun keinen Handschlag mehr, als wir müssen. Die Angst vor Deindustrialisierung geht in Nordhessen um. Wie die aussieht, wissen unsere ostdeutschen Kollegen noch aus DDR-Zeiten: Da wachsen Bäume aus den Häusern, Geisterdörfer entstehen. Tja, wer weiß, wie es in ein paar Jahrzehnten hier in Baunatal aussieht? Wird unser schönes VW-Werk noch stehen? Wird hier noch jemand arbeiten?

Einige Kollegen haben sich erst vor ein paar Jahren ein Haus gekauft und befürchten nun, sich dieses bald nicht mehr leisten zu können. Großes Unverständnis gab es auch über die vom Kasseler Betriebsrat genehmigte „verpflichtende Mehrarbeit“, was heißt: Zwölf Tage Arbeit am Stück sind keine Seltenheit. Offene Wutausbrüche sind mir nicht bekannt.

Jedoch wurde mit großer Sympathie aus Zeitungen wahrgenommen, dass Audi-Mitarbeiter in Brüssel aus Protest über die Sparpläne 200 Autoschlüssel von fabrikneuen Fahrzeugen verlegt haben. Weiter so, Kollegen! Es ist ja ziemlich viel, was gerade über uns VW- und Audi-Werker hereinbricht. Da kann man schon mal etwas „verlegen“, oder? Generell wünsche ich mir von meiner Gewerkschaft viel mehr internationale Solidarität. Angenommen, unser Standort Kassel wird geschlossen und die Komponenten werden auf die Werke in Mladá Boleslav und Poznań aufgeteilt, dann werden sich die dortigen Kollegen über ihre neu gewonnenen Beschäftigungen freuen und uns gegenüber nicht solidarisch sein. Wir sind es in der Vergangenheit ja auch nicht gewesen. Oder wo war unser Aufschrei, als im Juli die Meldung kam, dass das Werk in Brüssel mit seinen 3.000 Beschäftigten „schrittweise stillgelegt“ wird?

Oder wir bauen Panzer …

Dabei ist Solidarität unsere Stärke. Das müssen wir alle als Gewerkschafter erst wieder lernen. Unser Betriebsratsvorsitzender in Kassel, Carsten Büchling, hat vor kurzem einen Satz in der Frankfurter Rundschau formuliert, der für interessante Gespräche im Betrieb sorgte. Er sagte sinngemäß: Irgendwann sollten die Beschäftigten entscheiden, was produziert wird. Einigen ist dann eingefallen: Panzer würden sich doch wie geschnitten Brot verkaufen! Zum Glück kam schnell die Einsicht: Auch die bringen keine sicheren Jobs, da die meisten Menschen Frieden wollen. Mittlerweile wird darüber diskutiert, öffentliche Verkehrsmittel – beispielsweise Schienenfahrzeuge – zu bauen. Diese Diskussion wäre noch vor ein paar Monaten undenkbar gewesen bei uns. Was die Leute nicht alles tun für sichere Jobs. Jeder will seine kleine Welt zu Hause aufrechterhalten. Ich ja auch. Würde die Produktion von Nudeln Sicherheit bieten, wären die meisten von uns bestimmt bereit, Nudeln zu produzieren.

Thorsten Donnermeier

Foto: privat

Wir müssen zusammen mit Wissenschaft und Klimabewegung für zukunftsfähige Produkte kämpfen. Nur die würden für Beschäftigungssicherung sorgen. Verträge allein geben keine Sicherheit, wie wir jetzt wissen. Nur so ist es möglich, dass VW wieder für Jugend, Zukunft und Sicherheit im Alter steht. Das müssen wir Gewerkschafter und VW-Beschäftigte uns immer vor Augen halten. Leider sprechen die Kapitalinteressen dagegen. Jede Vernunft spricht dafür. Wieso beteiligt sich der Betriebsrat in Wolfsburg nicht an der Debatte über den Bau von ÖPNV-Fahrzeugen? Ich weiß es nicht. Aber eines weiß ich: Eine zukunftsorientierte Gewerkschaft mit den Kampfmethoden der internationalen Solidarität ist für uns Beschäftigte wichtiger als je zuvor.

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