Der Grünen-Vorstand tritt geschlossen zurück. Die Vorsitzenden Nouripour und Lang räumen mit Blick auf die Ostwahl-Ergebnisse und die bundesweiten Umfragen ihr Scheitern ein. Die Partei will sich neu aufstellen, das könnte aber krachen – auch weil da wer Kanzler werden will.
Das Wort Paukenschlag ist viel bemüht und überstrapaziert in der politischen Berichterstattung, doch in diesem Fall ist es angemessen. Am Morgen laden die Grünen überraschend zur Pressekonferenz, eine Stunde später treten die Vorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour vor die Mikrofone und erklären den geschlossenen Rücktritt des Parteivorstands. Die Grünen steckten „in der tiefsten Krise“ seit einem Jahrzehnt, sagt Nouripour. „Jetzt ist nicht die Zeit, um am eigenen Stuhl zu kleben“, ergänzt Lang. Der Bundesparteitag Mitte November soll nun vorzeitig einen neuen Vorstand wählen.
Lang und Nouripour hatten nach der Bundestagswahl 2021 die Parteiführung von Annalena Baerbock und Robert Habeck übernommen, die ins Kabinett wechselten. Anstelle des zum Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium ernannten Michael Kellner rückte Emily Büning zur Bundesgeschäftsführerin auf. Jetzt sind sie nur noch geschäftsführend im Amt. Der Rücktritt solle einen Neuanfang ermöglichen“, sagt Lang. Auch die stellvertretenden Vorsitzenden Pegah Edalatian und Heiko Knopf sowie der vor nicht einmal einem Jahr ins Amt gewählte Bundesschatzmeister Frederic Carpenter treten zurück.
Der Rücktritt ist vor allem Konsequenz aus dem Debakel, das die Partei in diesem Sommer im Osten erlebt hat. Viel hatten sich die Grünen von den Landtagswahlen ohnehin nicht erwartet, aber der Rauswurf aus den Parlamenten in Brandenburg und Thüringen sowie der denkbar knappe Wiedereinzug in Sachsen waren nahe am GAU, dem größten anzunehmenden Unfall. Dem Bundesparteivorstand war es nicht gelungen, eine Strategie zu entwickeln, trotz scharfen Gegenwinds zumindest die Kernwähler zu mobilisieren. Auch die Europawahlen im Frühjahr waren ein Fiasko: Stammwähler liefen zur Kleinstpartei Volt über.
Ein politisches Talent, das polarisiert
Lang war einmal Vorsitzende der Grünen Jugend. Sie galt und gilt in der Partei als großes politisches Talent. Als Vorsitzende war sie das Gesicht des linken Parteiflügels und wollte vor allem das Profil der Grünen als soziale Partei schärfen. Ihre eigene Biografie als Tochter einer alleinerziehenden Sozialarbeiterin diente ihr immer wieder zur Herleitung der eigenen politischen Positionen. Ihr politisches Talent zeigte sich nicht zuletzt bei teils feurigen Parteitagsreden, als sie dazu beitrug, dass sich die Delegierten im Streit über das Abbaggern von Lützerath oder der Zustimmung zur europäischen Asylreform mehrheitlich hinter der Parteiführung versammelten.
Zugleich polarisierte kaum eine Grüne so stark wie die 30-Jährige ohne Arbeitserfahrung außerhalb der Politik. Im Internet oft auf das Widerlichste angefeindet und verächtlich gemacht wegen ihrer Statur, gelang es ihr aber auch nicht, bei der übergroßen Mehrheit der gemäßigten Wählerinnen und Wähler zu verfangen: Mal verrannte sie sich in Talkshows in technokratischen Worthülsen, mal zeigte sie wenig Gespür für die politische Stimmung im Land – etwa Langs Behauptung, Migration sei im Osten kein wahlentscheidendes Thema gewesen.
Fokus auf die Partei, wenig Gespür für das Land
Der frühere Außenpolitiker Nouripour als Vertreter des Realo-Flügels reizte mit seinem Auftreten deutlich weniger, konnte der Partei aber auch nicht zu einem von Habeck und Baerbock unabhängigen Profil verhelfen. Geschäftsführerin Büning versuchte es nicht einmal, bekannt zu werden – und dürfte selbst Mitgliedern bis heute kein Begriff sein.
Lang, Nouripour und Büning verstanden sich oft eher als Dienstleister der beiden Star-Minister. Sie verwendeten viel Kraft und Zeit darauf, der Basis das Festhalten an der Ampel mit ihren vielen Kompromissen und öffentlichen Streits verständlich zu machen. Dass sich derweil im Land eine scharfe Ablehnung der Grünen verfestigte, scheint Lang und Nouripour teilweise entgangen zu sein.
Das mag auch daran liegen, dass sie nicht die gleiche Kraft wie Robert Habeck für Termine mit Wählern außerhalb des eigenen Milieus aufbrachten. Nouripours Vorgänger als Parteichef berichtete auf einer Wahlkampfveranstaltung in Leipzig, wie er fünf Jahre zuvor fast vier Wochen lang ununterbrochen durch das Bundesland getourt war, um mit den Sächsinnen und Sachsen zu sprechen. Nouripour hatte sich am Tag vor dem Habeck-Auftritt in Leipzig zwei Stunden lang die Porzellanherstellung in Meißen erklären lassen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Hätte er sich in derselben Zeit auf den Marktplatz der Stadt gestellt, hätten dort sehr viele Menschen Fragen gehabt, warum die Grünen immer mehr Waffen für die Ukraine fordern.
Der Wind hat sich gegen die Grünen gedreht
Lang und Nouripour standen persönlich auch dafür, die Einigkeit der Grünen zu wahren, nachdem Baerbock und Habeck die notorischen Flügelstreitigkeiten beendet hatten. Kaum ein Termin mit den beiden, an dem sie nicht den großen Spaß mit- und aneinander betonten. Demonstrativ fröhlich bis kalauernd waren diese Begegnungen oft und wenn es thematisch einmal ungemütlich wurde mit Journalisten, flüchtete sich Nouripour zuweilen in sein zweitliebstes Thema nach der eigenen Partei: seine geliebte Eintracht Frankfurt. Fußballfan Nouripour kann nahe dran sein an den Menschen. Am sich festsetzenden Bild der Menschen von den Grünen als elitärer Verbotspartei änderte Nouripours Wirken nichts.
Als Nouripour im August im ZDF sagte, die Ampel sei eine „Übergangsregierung“, hatte er damit auch in den eigenen Reihen irritiert. Das bundesweite Umfragetief, die meilenweite Entfernung der Grünen vom weiter angestrebten Kanzleramt sind dennoch nur teilweise den beiden Vorsitzenden und dem übrigen Vorstand anzulasten. Maßgeblich ist die schwierige Rolle der Grünen in der Ampel, das desaströse Zustandekommen des Heizungsgesetzes, das von vielen Menschen als moralisierend wahrgenommene Auftreten von Außenministerin Baerbock sowie das schwache bis nicht existente Wirtschaftswachstum unter einem Wirtschaftsminister Habeck.
Auch in der sich verschärfenden Ablehnung der bisherigen Zuwanderungspolitik stehen die Grünen mit ihren Positionen auf immer einsamerem Posten. Die immensen Probleme des Volkswagen-Konzerns bestätigen zudem scheinbar das Scheitern des Wechsels hin zur E-Automobilität. Die Menschen machen die Probleme der Transformation vor allem an den Grünen fest. CDU, CSU, AfD, BSW, FDP und Freie Wähler haben sich auf die Grünen eingeschossen. In Brandenburg gerieten sie dann auch noch unter die Räder der SPD: Ministerpräsident Dietmar Woidke warb im Ringen mit der AfD viele Grünen-Wähler ab.
Intern tobt ein Richtungsstreit
Der überraschende Rücktritt ist ferner Ausdruck parteiinterner Konflikte. Schon den Streit um die nächste Kanzlerkandidatur haben Lang und Nouripour nicht konfliktfrei managen können. Baerbock inszenierte ihren Verzicht im Alleingang. Habeck und seine Mitstreiter waren zudem mit Lang und ihrer Ausrichtung der Grünen unglücklich. Ihre Analyse: Als Sozialstaatspartei gewinnen die Grünen keinen Blumentopf hinzu. Diskret und doch unübersehbar ist Habeck schon lange von Bundesfamilienministerin Lisa Paus, ebenfalls eine Vertreterin des linken Parteiflügels, und ihrem gescheiterten Kindergeld-Konzept abgerückt.
Die Realo-Truppe um Habeck, der noch immer Bundeskanzler werden will und der dabei über die Bundestagswahl 2025 hinaus denkt, will die Grünen anders ausrichten. In Fragen der Wirtschaft, der Migration und inneren Sicherheit sollen die Grünen stärker in der Mitte verortet werden. Die ist in den vergangenen Jahren konservativer geworden. Die Zeiten, in denen Klimapolitik populär war und die Partei deshalb regelmäßig bei mehr als 20 Prozent stand, sind vorerst vorüber.
Spekulationen über Nachfolger
Spekuliert wird unmittelbar nach Bekanntwerden des Vorstandsrücktritts, dass Franziska Brantner anstelle von Nouripour beim Parteitag in Wiesbaden kandidieren könnte. Die Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium zählt zu Habecks engstem Kreis und hatte schon nach der Bundestagswahl Interesse an der Parteiführung bekundet. Sie wurde zuletzt auch als Wahlkampfmanagerin der Partei gehandelt. Die Schwäbin ist mit ihrem eher bürgerlichen Kurs aber auf Distanz zum linken Studentenmilieu, das die Basis der Grünen prägt. Habeck hatte seine Kandidatur aber davon abhängig gemacht, dass die Partei seinen Weg mitgeht. Brantner könnte nun zufallen, dies durchzusetzen.
Auch für Langs Nachfolge kursieren Namen. Weit vorn: Felix Banaszak. Der 34-jährige Bundestagsabgeordnete ist eine der prominentesten Stimmen, die öffentlich Widerstand gegen eine Übernahme der Parteispitze durch Habeck und seine Vertrauten geäußert hatten. Habeck müsse für eine Kanzlerkandidatur „unter Beweis stellen, dass er die Partei in ihrer Breite mitnehmen kann und will“, hatte Banaszak der „Rheinischen Post“ gesagt.
Wenn die Grünen vom 15. bis 17. November zur Bundesdelegiertenkonferenz zusammenkommen, hatte dies eigentlich der Krönungsparteitag werden sollen für den Kanzlerkandidaten Habeck. „Ich möchte auf dem Parteitag eine offene Debatte zu einer möglichen Kandidatur und ein ehrliches Votum in geheimer Wahl“, sagte Habeck nach der Rücktrittserklärung. Die Entscheidung von Lang und Nouripour, lobte Habeck, sei ein „großer Dienst an der Partei“.
Im für ihn schlechtesten Fall aber kommt es in Wiesbaden zu einem offenen Richtungsstreit sowie Abrechnungen auf großer Bühne. Vor allem dann, wenn weitere Interessierte aus der Deckung kommen sollten. Bewerber, die sich einer vorab abgesprochenen Festlegung der erweiterten Parteiführung auf zwei Kandidaten nicht fügen wollen. Wie gut es Habeck gelingt, die Grünen rechtzeitig vor dem Bundestagswahlkampf hinter sich zu versammeln, zeigen die kommenden Tage und Wochen.
Source: n-tv.de