Auf jede Trump-Wahl folgte für unseren Autor das passende Konzert. Aber was bleibt von Fäusten in der Luft, wenn der Alltag sie glättet? Konstantin Nowotny über den wahren Klang künstlerischer Rebellion – und ein wirklich mutiges Album
Am Vorabend des 11. November 2016 hatte ich es noch nicht so richtig begriffen: Entgegen beinahe sämtlichen Erwartungen meiner Kommiliton*innen an der New Yorker Uni war drei Tage zuvor ein Frauenfeind, ein Rassist, ein Ausbeuter, ein Dummkopf – manche sagten schon damals: ein Faschist – zum 45. Präsidenten der vielleicht einflussreichsten Supermacht des Planeten gewählt geworden.
Dann sah ich eine Show der Band The Thermals, deren Album The Body, the Blood, the Machine aus dem Jahr 2006 ich sehr mag. Es ist ein Konzeptalbum, erzählt von einem fiktiven Paar, das vor faschistoiden christlichen Fundamentalisten auf der Flucht ist. Die Band hätte wohl selbst nie geglaubt, wie nah die Realität einmal an ihre künstlerische Vision herantreten könnte. Ich erinnere mich, wie sie schweigend die Bühne betraten und anschließend das zehn Jahre alte Album überraschend in voller Länge spielten. Fast prophetisch heißt es etwa in dem Song An Ear for Baby: „Hebt tiefe Gräben aus – wir werden eine neue Grenze brauchen.“ Gehört hatte ich diese Zeilen unzählige Male, aber jetzt verstand ich sie auch.
Acht Jahre und zwei amerikanische Legislaturperioden später habe ich ein höchst unangenehmes Déjà-vu. Wieder bin ich auf einem Konzert einer US-Band, nur Stunden nachdem die USA wieder gewählt haben. „Ich hätte mir wirklich gewünscht, dass dieser Song irrelevant wäre“, haucht Sängerin Laura Jane Grace ins Mikrofon. Sie spielt einen Song ihrer alten Band Against Me!. In White People for Peace geht es um Protest gegen Regierungen und Krieg – und wie aussichtslos dieser oft ist. Ein Protestsong über die Sinnlosigkeit vieler Protestsongs.
Er wird mir jetzt begreiflicher: Was brachten all das zornige Rufen und behutsame Dichten, die endlosen Male „Fuck you, I won’t do what you tell me!“ von Rage Against the Machine oder das berühmte „The times they are a-changin’“ von Dylan, wenn die „times“ letztlich nicht „changen“, wenn doch alles wiederkommt: autoritäre Gelüste nach starker Führung, Ausgrenzung der „Anderen“ und immer wieder Krieg, Krieg, Krieg?
Glaubt noch jemand an die aufrüttelnde Kraft der Musik oder ist längst allen klar, dass auf jede hochgereckte Faust bei einem Konzert dann der wieder beruhigte Heimweg folgt, dass nach jedem 1. Mai ein 2. Mai kommt, an dem alles so ist wie vorher, wie der Rapper grim104 es ausdrückte?
Was wäre dann musikalische Gegenrede, die noch etwas bewirkt? Etwa eine Neuauflage des Benefiz-Songs, wie sie gerade zum 40. Jubiläum des Band-Aid-Klassikers Do They Know It’s Christmas? zum inzwischen vierten Mal unternommen wird? Bewirkt hat es vielleicht etwas, jedes Mal. Millionen an Hilfsgeldern wurden zur Bekämpfung von Hungersnöten oder Epidemien eingesetzt. Von Remake zu Remake wurde die Summe allerdings immer kleiner und die Kritik größer: Zeilen wie jene darüber, dass es „keinen Frieden und keine Freude“ an „Weihnachten in Westafrika“ gäbe, betrachteten Kritiker*innen nicht zu Unrecht als westlich zentrierten Blick auf den Kontinent. Und ausgerechnet über einigen der christlichsten Länder der Welt die Frage tanzen zu lassen, ob es dort denn auch ein Fest gäbe, war schon immer grenzdämlich.
Vielleicht ist künstlerische Rebellion nur wahrhaftig, wenn sie nicht als Inszenierung daherkommt. Zur Rebellion ruft der französische Künstler Lucky Love, der gerade sein neues Album I Don’t Care If It Burns veröffentlicht hat, nicht auf. Er verkörpert sie: Sich mit einer erkennbaren Behinderung zu präsentieren, um über Geschlechternormen, Gleichheit und Liebe zu singen – ist das in diesen und den kommenden Zeiten nicht mutiger und wirksamer als jeder Protestsong?
Auch das sehe ich jetzt klarer.
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Musiktagebuch
Konstantin Nowotny schreibt beim Freitag die Kolumne Musiktagebuch. Darüber hinaus schreibt er öfter über Themen rund um die Psyche und hin und wieder über Ostdeutschland.