Von „Arbeitsscheuen“ im NS solange bis Hartz IV: Deutschlands ekelhafte Geschichte welcher Sanktionen

Die Nachricht war ein Hammer: Am 5. November 2019 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die bisherige Hartz-IV-Sanktionspraxis verfassungswidrig war. Wow! Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: 15 Jahre lang haben Millionen Menschen in Hartz IV ihre Existenzgrundlage, ihre Wohnungen, ihre Krankenversicherung, ihre Würde verloren, weil sie den Vorgaben einer Behörde nicht gefolgt waren. Auch Eltern mit Kindern waren davon betroffen. Damit sollte endlich Schluss sein! Der 5. November 2019 war so etwas wie der Sturm auf die Bastille des deutschen Sozialsystems.

Leider hatte das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung nicht geschrieben, dass die Hartz-IV-Sanktionspraxis als Ganzes nicht verfassungsgemäß war – sondern nur, dass sie „teilweise verfassungswidrig“ war. Die Tagesschau übersetzte es auf dieses sachlich korrekte Niveau: „Kürzungen von 30 Prozent sind unter bestimmten Bedingungen in Ordnung. Kürzungen von 60 oder gar 100 Prozent aber ab sofort nicht mehr.“ Und wie die Tagesschau ebenfalls sehr korrekt erklärte, waren ab jetzt auch die 30 Prozent Kürzungen nur ausnahmsweise erlaubt.

Dass es solche Sanktionen überhaupt gab – und um es vorwegzunehmen: etwas abgemildert im Bürgergeld weiterhin gibt und in der „Neuen Grundsicherung“ wieder verschärft geben wird –, hat eine lange Tradition. Im Nationalsozialismus wurden „Arbeitsscheue“ verfolgt und interniert, doch auch in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik spielte die Bestrafung Erwerbsloser eine große Rolle. Eine kurze Geschichtsstunde.

„Arbeitsscheu“: Von der Weimarer Republik in den Nationalsozialismus

Schon im Sozialrecht der Weimarer Zeit hat es Sanktionen gegeben. Sie richteten sich gegen „Arbeitsscheue“. Deren Hilfsbedürftigkeit war dann „aufs Strengste zu prüfen sowie Art und Maß der Fürsorge auf das zur Fristung des Lebens Unerlässliche zu beschränken“. Immerhin, das Unerlässliche wurde dann doch noch zugebilligt – heute steht dies in der CDU-Debatte über Totalsanktionen bei der „Neuen Grundsicherung“ wieder zur Disposition.

In der Zeit des Nationalsozialismus wurden Menschen auf Grundlage des Begriffsarbeitsscheu“ vom NS-Regime willkürlich verfolgt. Ab 1933 begann in zahlreichen Städten die Internierung in bereits existierenden Arbeitshäusern oder in speziellen Lagern für geschlossene Fürsorge, die später als Konzentrationslager betrieben wurden.

Die Regelungen der NS-Zeit galten in der BRD zunächst weiter: Wer eine zumutbare Arbeit nicht annahm, hatte keinen Anspruch auf Leistungen, abgesehen vom Unerlässlichen. Nach wie vor konnten im schlimmsten Fall „arbeitsscheue“ in speziell dafür vorgesehenen Einrichtungen untergebracht werden.

Als 1961 das neue Bundessozialhilfegesetz in Kraft trat, wurden Sozialhilfe und Arbeitslosengeld zwei getrennte Leistungen. Der Leitbegriff „Arbeitsscheu“ blieb jedoch erhalten.

Mildere Sanktionen ab 1974: Für eine Absenkung der Fürsorge musste einiges zusammenkommen

Die nächste Reform fand 1974 statt und änderte so gut wie nichts: Aber immerhin war die Unterbringung in Arbeitseinrichtungen wegen beharrlicher“ Weigerung zumutbarer Arbeit seit einer Strafrechtsreform von 1969 aufgehoben.

Seit der nächsten Gesetzesänderung 1996 unterlag es nicht mehr dem Ermessensspielraum der Sozialbehörden, um wie viel die Fürsorgeleistung abgesenkt werden konnte, sondern sie wurde in 25 Prozent-Schritten auf maximal 75 Prozent gemindert. Das Übrige blieb unantastbar als das „Unerlässliche“. Es musste allerdings schon einiges zusammenkommen, damit diese Eskalation überhaupt eintreten konnte. Ein Terminversäumnis reichte da nicht aus. Auch fehlende eigene Bemühungen um Arbeit rechtfertigten keine Reduzierung der Leistungen.

Hartz IV: Erstmals seit dem Deutschen Kaiserreich wurde die Totalsanktionierung eingeführt

Mit der Einführung von Hartz IV und der Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld im Jahr 2005 änderte sich das drastisch. Die Hartz-IV-Gesetze zeugten von einem Geist der Schonungslosigkeit, der eigentlich längst überwunden schien. Die Schwelle der Sanktionsmöglichkeiten wurde rapide gesenkt. Schon ein versäumter Termin reichte, um sanktioniert zu werden. Nun gab es die Stufen 10–30–60 und sogar 100 Prozent. Das war neu!

Erstmals seit der Zeit des Deutschen Kaiserreichs wurde nicht einmal mehr das Unerlässliche zugestanden. Außerdem wurden Sanktionen automatisch auf die Dauer von drei Monaten festgesetzt. Regelverletzungen wie die Ablehnung einer zumutbaren Arbeit oder Maßnahme konnten bis zu drei Monate ohne jeden Cent, ohne Miete, zur Folge haben. Was zumutbar war, entschied mehr oder weniger das Jobcenter. Zur selben Zeit waren die Ein-Euro-Jobs erfunden worden. Sie wurden vom Jobcenter zugewiesen und sie abzulehnen, war eine Pflichtverletzung.

Betroffen waren vor allem Menschen, die in einer Extremsituation steckten, etwa aufgrund einer Angststörung oder Depression ihre Post nicht öffnen konnten. Oder die den Job im Altenheim nicht annehmen konnten, weil er sich nicht mit der Betreuung ihrer Kinder vereinbaren ließ.

Bundesverfassungsgericht 2019 zwingt zur Abschaffung von Totalsanktionen: Der kurze Sozialfrühling

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2019 hat eine Art Sozialfrühling ausgelöst. Auf Antrag des damaligen Juso-Chefs Kevin Kühnert wurde beim SPD-Parteitag 2019 sogar über die gänzliche Abschaffung von Sanktionen abgestimmt – ohne Erfolg. Stattdessen konnte sich die Partei nur kümmerlich auf das einigen, was durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ohnehin erforderlich wurde: Eine Abmilderung der Sanktionen auf maximal 30 Prozent, keine Kürzungen bei Kosten der Unterkunft, Sanktionsdauer nicht mehr automatisch drei, sondern „nur“ noch einen Monat.

Umso tragischer die schrittweise Rücknahme der Mini-Fortschritte, die das Bürgergeld 2023 durch die bahnbrechende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mit sich brachte. Doch ist diese Entscheidung inzwischen vergessen. Es wird unter Friedrich Merz über Sanktionen diskutiert, als gäbe es keine Menschenwürde, die zu beachten wäre.

Wenn die Union seit Monaten und Jahren gebetsmühlenartig und unerbittlich mehr Härte und Totalsanktionen beim Bürgergeld fordert, dann meint sie damit, dass den Menschen auch die Kosten der Unterkunft gestrichen werden sollen. Sie wollen entgegen dem Urteil des höchsten Gerichts Gesetze durchbringen, koste es, was es wolle. Sie wollen den Menschen auch das Unerlässliche streichen. Als hätten diese Menschen durch (angeblichen) Ungehorsam ihre Menschenwürde verwirkt.

Mit keinen geringeren Artikeln als dem ersten unserer Verfassung, der Menschenwürde, in Verbindung mit Artikel 20, dem Sozialstaatsprinzip, ist die Sicherung des Existenzminimums nämlich verankert. Unverhohlen erklären sich Vertreter der Union jeden Tag mit ihren Forderungen zu Feinden unserer Verfassung.

„Neue Grundsicherung“: Selbst die SPD nickt 30 Prozent Sanktionen ab

Carsten Linnemann, CDU-Generalsekretär, behauptete im vergangenen Sommer „die werden dann schon arbeiten“, denn sonst würden sie immerhin auf der Straße landen. Aber so einfach ist das nicht. Tatsächlich haben tausende Menschen zu Zeiten von Hartz IV ihre Wohnungen durch Sanktionen verloren. Nicht zu schweigen von der Signalwirkung, die eine solche Unerbittlichkeit auch auf alle anderen hat. Davon betroffen waren auch Familien mit Kindern. Das sind Tragödien, die an der Öffentlichkeit quasi unbemerkt vorbeigehen, denn die Betroffenen haben weder Kraft noch Lobby, um sich lautstark für sich einzusetzen, während die Zwangsräumung stattfindet und die Notunterkunft oder Obdachlosigkeit wartet.

Obdachlosigkeit ist wohl die drastischste Folge von Sanktionen. Hinzu kommen unzählige andere, vor allem auf Kosten des Wohlergehens der Betroffenen, aber auch Verwaltungsaufwand und -kosten. Es gibt aber auch Seiten, die von Sanktionen ganz und gar profitieren und ein enormes Interesse an ihrem Erhalt haben: Das ist der Niedriglohnsektor, der seit 2005 floriert. Auch wenn er durch die Einführung des Mindestlohns ein wenig zurückgegangen ist, hat Deutschland nach wie vor einen boomenden Niedriglohnsektor, der vom Zunder billiger Arbeitskräfte profitiert. Je schlechter die Grundsicherung, desto schlechter die Verhandlungsposition auch all der Menschen, die für ihr Geld arbeiten müssen.

Die „Neue Grundsicherung“ wird eine massive Entrechtungsmaschine für Menschen in Armut. Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) hält zwar dagegen, wenn es um – verfassungswidrige! – Totalsanktionen einschließlich der Miete geht, aber härtere Sanktionen beim ersten verpassten Termin, nämlich 30 Prozent für drei Monate, hat sie schon abgenickt. 30 Prozent sind das absolute Maximum, das das Verfassungsgericht als noch vertretbar genannt hat. Für einen verpassten Termin! Von einer sozialdemokratischen Partei hätte man einmal erwarten können, dass sie nicht das Maximum des verfassungsmäßig vertretbaren Sozialkürzungen vertritt, oder?

Auch die bisher geltende Karenzzeit von einem Jahr für die Kosten der Unterkunft soll abgeschafft werden. Das bedeutet konkret, dass nicht mehr auch „unangemessene“ Mieten für zumindest ein Jahr übernommen werden, wie es im Bürgergeld noch der Fall war. Obdachlosigkeit wird auch hiervon eine Konsequenz sein. Denn „angemessene“ Mieten, die vom Amt vollständig übernommen werden, gibt es kaum.

Aber muss es nicht Sanktionen geben, damit die Menschen arbeiten?

Der Öffentlichkeit werden Sanktionen als notwendiges Mittel verkauft, um Erwerbslose schnell in Arbeit zu bringen, und als Gerechtigkeit gegenüber all denen, die morgens aufstehen und hart arbeiten, um Steuern zu zahlen. Die Übersichtsstudie zur Auswirkung von Sanktionen des Instituts für Arbeits- und Berufsforschung (IAB) von 2022 kommt jedoch zu dem Schluss, dass keine Wirkungen auf Arbeitssuchintensität und Anspruchslöhne nachgewiesen werden“ können.

Unter anderem wird dort auch ein Bericht des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags aus dem Jahr 2017 herangezogen, der schlussfolgert: „Die ‚erzieherischen‘ Wirkungen von Sanktionen auf das Verhalten und die Verhaltensdispositionen ließen sich nicht als ‚Aktivierung‘ oder als Stärkung von ‚Eigenverantwortung‘ interpretieren.“ Gelinde gesagt erscheint es rätselhaft, wie die IAB-Evaluation nach all diesen Ergebnissen am Ende zu der Empfehlung kommt: „Die Folgerungen aus den bislang vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen würden nicht ein Sanktionsmoratorium oder eine Abschaffung der Sanktionen begründen.“

Also muss einfach wieder jemand vor das Bundesverfassungsgericht ziehen und das Urteil von 2019 wiederholen? Leider ist das nicht so einfach. Man kann nämlich nicht einfach „nach Karlsruhe ziehen“, wie es in den Nachrichten gerne lapidar heißt. Also, man kann natürlich schon, aber um tatsächlich ein Verfahren in Gang zu bringen, muss der beklagte Rechtsanwendungsfehler einen spezifischen Bezug zu den verfassungsmäßigen Grundrechten haben und durch alle Instanzen gehen. Bis solch ein David wieder gegen Goliath antreten kann, wird viel Unrecht an den Schwächsten getan werden.

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