Volkswagens Urkrise: Ein Fahrplan pro den Weg hinaus

Es war schon dunkel in Wolfsburg, als die 21 Herren des Volkswagen-Aufsichtsrats an einem Montag im April 1975 in den Sitzungssaal des Verwaltungshochhauses zurückkehrten. Fast sechs Stunden lang hatten sie an dem Tag gestritten. In den frühen Abendstunden musste die Sondersitzung mehrfach unterbrochen werden, denn für alle Beteiligten ging es ums Ganze. Toni Schmücker, erst zwei Monate davor zum neuen Vorstandsvorsitzenden der Volkswagen werk AG berufen, hatte mehrfach vor der „tödlichen Gefahr“ der zu hohen Personalkosten gewarnt und auf „drastische Schritte“ gepocht, um VW zu retten. Sein Kontrahent Eugen Loderer, IG-Metall-Chef und stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender, hielt dagegen. Man werde sich nicht erpressen lassen nach dem Motto „Friss, Vogel, oder stirb!“. Es brachte ihm nichts. In der Kampfabstimmung um halb neun unterlag die Gewerkschaft. Der Aufsichtsrat beschloss, 25.000 Stellen abzubauen. Seite für Seite ist das in den teils handschriftlichen Protokollen nachzulesen, die noch ein halbes Jahrhundert später im Konzernarchiv an der Südseite des Stammwerks verwahrt werden.

Die Machtkämpfe um das Jahr 1975 herum sind als Urkrise in die Chroniken des Konzerns eingegangen, der die deutsche Wirtschaft bis heute prägt wie kaum ein anderer. Auch jetzt steckt VW wieder in der Krise. In dieser Woche hat die Gewerkschaft einen eigenen Plan vorgelegt, um die Kosten zu senken und die Effizienz zu erhöhen. Tausende Beschäftigte haben vor der Kulisse der denkmalgeschützten Backsteinhallen des Wolfsburger Stammwerks demonstriert. Im Ringen um einen neuen Haustarif endet bald die Friedenspflicht, vom 1. Dezember an sollen Warnstreiks beginnen. Und wieder stehen Werksschließungen und Massenentlassungen im Raum.

Deutschland hat sich verändert, ebenso wie das Unternehmen. Die Widersacher heißen heute Oliver Blume, Chef von VW und Porsche, oder Daniela Cavallo, Vorsitzende des Konzernbetriebsrats. VW ist zum globalen Technologiekonzern gereift, von dem die kriegsgeprägte Generation der Herren Schmücker und Loderer und des damals mit der FDP regierenden SPD-Bundeskanzlers Helmut Schmidt kaum zu träumen wagte.

Der Aufstieg des Käfers

Doch die Grundmechanik ähnelt sich. Damals war die US-Nachfrage für den Käfer, das Erfolgsmodell schlechthin, weggebrochen. Heute fehlen Gewinne aus China, wo VW in den Achtzigerjahren als erster Hersteller aus dem Westen im großen Stil Autos verkaufte. Die „Niederschrift über die 72. Sitzung des Aufsichtsrates der Volkswagenwerk Aktiengesellschaft“ von 1975 hält fest: Die Werke in Deutschland seien „nicht einmal mehr mit 60 Prozent ausgelastet“, es gehe um die „Existenz des Unternehmens“. Das sind Aussagen, die der Vorstand um Oliver Blume wohl auch heute unterschreiben könnte.

VW war schon damals nationales Symbol und Mythos. Der „Kraft-durch-Freude-Wagen“ für weniger als 1000 Reichsmark war unter Hitler ein Versprechen geblieben, aber durch die Nazi-Propaganda als Sehnsuchtsobjekt im Kollektivbewusstsein verankert. Der Börsengang via Volksaktie machte viele Bürger Anfang der Sechzigerjahre zum Miteigentümer, während VW praktisch Staatsbetrieb blieb. 20 Prozent hielt der Bund, der sich drei Jahrzehnte später zurückziehen sollte, weitere 20 Prozent das Land Niedersachsen, bis heute ein mit Sonderrechten ausgestatteter Großaktionär. Das Stammwerk atmet die Historie, etwa in Halle 2, wo Pressmaschinen heute die Seitenteile des Golf 8 stanzen. In den Stahlträgern unter der Decke klaffen noch immer Löcher, die Granatsplitter während der Abwehrkämpfe im Zweiten Weltkrieg geschlagen haben. Man lässt sie dort – als Mahnmal für künftige Generationen.

Er lief und lief und lief: Lange war VW vom Käfer abhängig. Das sollte sich rächen.Imago

Die Krise, die Schmücker, Loderer und Co. lösen mussten, hatte eine lange Vorgeschichte. VW hatte in den Wirtschaftswunderjahren einen beispiellosen Aufschwung erlebt, war aber im Wesentlichen auf ein einziges Modell angewiesen geblieben: den Käfer, ergänzt durch den „Bulli“, der erst in Wolfsburg, später auch in Hannover vom Band lief.

Mitte der Sechzigerjahre wuchs die Konkurrenz in Deutschland durch Rivalen wie Opel, Ford oder Fiat, während im wichtigsten Exportmarkt Amerika die Verkäufe zurückgingen. Die gerade übernommene Auto Union GmbH, später Audi, blieb hinter den Erwartungen zurück und drohte zum Problemfall zu werden. Heinrich Nordhoff, der seit Jahren wie ein König über den VW-Konzern herrschte, sah schon damals die Grenzen, die die staatlichen Eigner und die IG Metall ihm setzten. Eigentlich, so räsonierte er schon im Februar 1967 vor Vorstandskollegen, müsse VW viele Stellen abbauen. Doch sei das wegen der „besonderen Situation“ in Wolfsburg nicht „ohne große Schwierigkeiten“ möglich. Auch heute erschwert die Staatsbeteiligung ein Umsteuern des Konzerns.

Die Krise in den 1960ern schien durchgestanden, als im Inland die Konjunktur anzog und der Export nach Amerika wieder besser lief. Doch Anfang der Siebzigerjahre ging es steil bergab. Nach dem Tod Nordhoffs folgte ein Vorstandschef auf den nächsten. Die Modelle Golf, Passat und Scirocco sollten endlich das Angebot verbreitern und den Schritt vom luftgekühlten Heckmotor zum wassergekühlten Frontantrieb bringen. Sie standen aber noch ganz am Anfang.

Giftiger Cocktail für VW

Das Ende des Währungssystems von Bretton Woods und die Abschwächung des Dollars bremsten die US-Verkäufe, während die Regierung in Deutschland wegen der Ölkrise an vier Sonntagen die Autos von den Straßen verbannte und für sechs Monate ein Tempolimit verhängte. Ein giftiger Cocktail für VW: Zwischen März und Juli 1974 stauten sich in der Spitze bis zu 460.000 produzierte, aber nicht ausgelieferte Autos auf den Lagerflächen. Für das ganze Jahr wies VW den historischen Verlust von 807 Millionen D-Mark aus, ein Debakel, auch für die staatlichen Eigner. Wenn das so weitergehe, sei eine Kapitalerhöhung „unumgänglich“, soll Finanzstaatssekretär Karl Otto Pöhl (SPD), Mitglied des VW-Aufsichtsrats, der Ministerrunde um Kanzler Schmidt damals im Bonner Palais Schaumburg dargelegt haben. Dass das Land Niedersachsen viel Geld aufbringen konnte, galt schon damals als unwahrscheinlich. Im Fall der Fälle, so Pöhl, stehe der Bund allein da.

Kurz zuvor war der damalige VW-Chef Rudolf Leiding abgetreten. Der gelernte Kfz-Mechaniker hatte sich einen Ruf als Kostendrücker erarbeitet, sich dann aber in Querelen mit der IG Metall verstrickt. Nun war ein „konzilianter Sanierer“ gefragt, wie der Historiker Manfred Grieger in einem Aufsatz über VW schreibt. Den fand der Konzern mit Anton Schmücker, genannt Toni, einem charmanten, aber in der Sache harten Rheinländer.

Die Analogie zur jüngeren Zeit sticht ins Auge. Auch Herbert Diess hatte als Konzernchef von 2018 an versucht, ­Kosten zu senken und Zehntausende Stellen abzubauen. Der Österreicher war aber am Widerstand der Gewerkschaft und des Landes Niedersachsen gescheitert. Nachfolger Blume, auf Kooperation bedacht, suchte erst den Schulterschluss mit Betriebsratschefin Cavallo, übt aber jetzt maximalen Druck aus, um die Kosten zu senken und die Rendite zu erhöhen.

1975 gipfelte der Streit im Aufsichtsrat. Die Gewerkschaft um IG-Metall-Chef Loderer hatte wohl auf Hilfe der Staatsvertreter gehofft, wurde dann aber mit sieben zu 14 Stimmen niedergestimmt, wie das Protokoll festhält. Die Belegschaft, zuvor schon über Angebote für den Vorruhestand und andere Eingriffe geschmolzen, sollte quer über alle Werke von 138.000 auf 113.000 Beschäftigte sinken, so der Beschluss. Vorwiegend sollte das über ein Abfindungsprogramm passieren. Das „Horrorszenario“, eine Schließung des Audi-Werks in Neckarsulm, wurde zwar abgewendet, die Arbeit dort aber auf eine Schicht zusammengestrichen. Zwei kleinere Betriebsteile in Heilbronn und Neuenstein machten dicht. Salzgitter verlor seine Fahrzeugmontage an Wolfsburg und behielt den Motorenbau, der dort bis heute läuft. Die Lösung ermöglichte es dem Betriebsrat zumindest, in den Wochen und Monaten danach wieder zur Tagesordnung überzugehen. Der Golf sorgte zügig für Schwung. Bald stellte VW wieder ein, und auch die Mitbestimmung wuchs an. 1976 schrieb der Bund paritätisch besetzte Aufsichtsräte vor, außerdem gilt das VW-Gesetz, das der IG Metall und dem Land Niedersachsen bis heute viele Sonderrechte gibt, etwa wenn es um die Errichtung oder Verlagerung von Produktion geht.

Finanzstaatssekretär Pöhl gerierte sich in der Sitzung dagegen als Ordnungspolitiker. Die Bundesregierung „gleicht nicht mit Steuern private Verluste aus“, sagte er laut handschriftlichem Vermerk im Anhang der Niederschrift. An den Einschnitten führe kein Weg vorbei. Kein Ton hingegen dazu, dass sie zuvor über Jahre verschleppt wurden.

Heute mehr als ein Dutzend Marken

Stets sei die Unternehmenspolitik von den Kontrolleuren mitgetragen worden, analysierte die F.A.Z. damals in ihrem Leitartikel. „Keine Investition, kein Erwerb einer Beteiligung, der nicht das Plazet des Aufsichtsrats gehabt hätte, auch jener Männer, die dort den Bund, das Land Niedersachsen oder die Seite der Gewerkschaften und der Arbeitnehmer vertreten.“ Statt früh einen Rückzug einzuleiten und Kapazität abzubauen, habe man „politisch gefärbte Querelen“ bis in den Vorstand hinein angeheizt.

Heute gehören mehr als ein Dutzend Marken und über einhundert Fabriken in vielen Ländern zu dem Konzern. Eine Zeit lang war er der größte Autohersteller der Welt, jetzt ist er die Nummer zwei nach Toyota. Die Familien Porsche und Piëch, mit der Historie verbunden, seit Ferdinand Porsche für Hitler am KdF-Wagen arbeitete, kontrollieren seit der Übernahmeschlacht im Jahr 2008 gut die Hälfte der Anteile. Das „System VW“ mit seinen Einflüssen aus Politik und IG Metall ist aber dasselbe geblieben, auch deshalb gab es kaum noch Stellenabbau. Als Gerhard Schröder (SPD) in den Neunzigerjahren Ministerpräsident von Niedersachsen war, setzte Personalchef Peter Hartz die Viertagewoche um und vermied, dass abermals 30.000 Arbeitsplätze wegfielen. In gleicher Höhe wollten die VW-Chefs Matthias Müller und Diess nach dem Dieselskandal abbauen, doch beide blieben nur kurz, und passiert ist wenig.

Aktuell wirkt die Geschäftslage auf den ersten Blick schwach, aber nicht katastrophal. Statt Verlusten wie im Jahr 1974 hat VW in den ersten drei Quartalen 5,4 Prozent operative Rendite quer über seine Marken erreicht. Porsche verdient weiter ordentlich, Audi wird zum Jahresende wieder mehr Fahrt aufnehmen. All das liefere dem Management „nicht gerade Munition für sein Argument, dass die Belegschaft in Deutschland historische Sparmaßnahmen und Opfer erbringen muss“, sagt Stephen Reitman von Bernstein Research, einem US-Analysehaus. Nur: Die Stammmarke VW, die etwa die Hälfte der Verkäufe im Konzern trägt, arbeitet nahe an der Nulllinie. Sie hat binnen Jahresfrist rund eine Milliarde Euro an Barmitteln verbrannt. In China brechen die Marktanteile weg, und die dortigen Rivalen wollen auch in Europa angreifen. Unter Donald Trump wird Protektionismus weiter um sich greifen, während die Nachfrage in vielen Märkten auf Jahre stagniert.

Die Politik wird wohl mit den Zähnen knirschen, aber Einsparungen mittragen. Sie bereitet ganz offensichtlich schon den Weg dafür. Werksschließungen und betriebsbedingte Kündigungen „werden von uns bekanntlich sehr kritisch gesehen“, sagte Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD), Mitglied des Aufsichtsrats, vor wenigen Tagen. Er schloss aber nicht per se aus, dass es dazu kommt. Die Solidarität mit der IG Metall hat Grenzen, wie die Historie zeigt. Doch jedes Mal dauert es Jahre oder Jahrzehnte, bis die Restrukturierung umgesetzt wird. Dann kommt der Knall, und wieder heißt es: „Friss, Vogel, oder stirb.“

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