Wenn Martin Winterkorn, der gefallene Regent von Wolfsburg, auf Abnahmefahrt mit einem neuen Auto ging, dann erstarrte seine gesamte Mannschaft. Nicht nur wegen der Minus 20 Grad, die es im hohen Norden hatte, auch wegen der befürchteten Feststellungen des Vorstandsvorsitzenden. So trug es sich zu, dass er auf einem zugefrorenen See kalte Füße bekommend seinen Adlatus fragte, ob der in der Wahl des Schuhwerks etwa etwas Billiges ausgesucht habe. Winterkorn ging trotz Eiseskälte bedächtigen Schrittes um den künftigen Golf herum und griff schließlich links hinten in den Radkasten. Dort nämlich kann man, wie er dem verdutzten Journalisten erklärte, „solides Dämmmaterial einbauen und es ordentlich befestigen. Oder etwas dahinschludern“.
Weil die Entwickler und Ingenieure nie genau wussten, wo „der Alte“ hinfassen oder nachschauen werde, wurden die Autos von Volkswagen in einer Art vorauseilendem Gehorsam stets eine Umdrehung anspruchsvoller konstruiert und verarbeitet als eigentlich notwendig. Damit allerdings auch teurer. Die Kundschaft freilich spürte das, Golf und Passat waren aus Gründen, die nicht jeder benennen konnte, immer irgendwie eine Spur überzeugender als die Modelle der Konkurrenz. Nicht umsonst entstand aus gesellschaftlich eine Generation Golf, die lange unschlagbar schien.
Dann kam der Betrug mit den Abgaswerten der Dieselmotoren, Volkswagen verlor seine Selbstachtung und auch seine Überzeugung. Wie ein an sich traumwandlerisch verwandelnder Stürmer, der plötzlich den Ball nicht mehr im Tor unterbringt. Der Weg, der dann eingeschlagen wurde, war zunächst einer des Schlingerns. Ein blasser Vorstandsvorsitzender, sodann einer mit dem Ansinnen, die Kosten müssten sinken. Das war bestimmt richtig, wie sich heute schmerzhaft zeigt, doch die Ingenieure berichteten in der Zeit unter Herbert Diess von bittersten Momenten. Immer wenn sie ein Auto so billig wie nur möglich entworfen hatten, sei die Ansage gekommen, nochmal 10 Prozent rauszunehmen. Ob das im Detail so stimmt, wer weiß das schon? Aber die Autos von Volkswagen verloren an Überzeugungskraft.
ID 3 und ID 4 verspielten viel Kredit
Hinzu kam die Entscheidung, angesichts des von der EU gesetzten Datums für ein defacto-Verbrennerverbot von 2035 an sofort alle Kraft in Elektroautos zu legen. Obwohl die noch nicht reif waren und sich angesichts der hohen Herstellkosten ohnehin nicht mit dem von VW gewohnten Standard anbieten ließen. ID 3 und ID 4 verspielten viel Kredit. Zugleich wurden die angestammten Modelle von Golf über Polo bis Passat und Tiguan beschädigt. Dass der Hochlauf der Elektromobilität langsamer als geplant verlaufen würde, die an sich supertreue Kundschaft zu murren und zu zweifeln begann, wurde lange Zeit nicht eingestanden.
Als dann Oliver Blume die Konzernleitung und Thomas Schäfer die Führung der Marke Volkswagen übernahmen, stand nach erstem Entsetzen nach der Inaugenscheinnahme der geplanten Modellpalette bald ein Begriff im Raum: zu sparsam konstruiert. Der Befund macht sich an vielerlei fest, die Kundschaft merkte es vor allem an harten Oberflächen, billig wirkenden Schaltern, plumpen Bildschirmen, kratergleichen Spaltmaßen, sichtbaren Scharnieren, auf der Unterseite nur noch mit Sprühnebel lackierten Oberflächen sowie ganz generell einem Design, das an Spannkraft verloren hat.
Die neue Führungsmannschaft steuerte sofort gegen, diverse, schon nahezu fertige Modelle wurden eingestampft. Erste Erfolge sind sicht- und spürbar, die gefühlte Qualität steigt. Allerdings fallen in den Autotests der F.A.Z. weiterhin Fahrzeuge au dem Konzern der Marken VW, Skoda oder Seat mit ausfallenden Bildschirmen auf, zuletzt der nagelneue Cupra Terramar. Das lange Zeit virulente Elektronik- und Softwareproblem scheint noch immer nicht ganz ausgemerzt.
In Zukunft stehen viele neue Modelle an. Noch eine Zeit lang werden Planungssünden abgearbeitet, bis etwa ein völlig neues Interieur mit filigranen und schick wirkenden Bildschirmen in die Serie kommt, dauert es noch. Aber die kommenden Autos versprechen frische Anziehungskraft. Sie gewinnen, nach allem, was bislang einsehbar ist, außen an Schärfe und Klarheit und legen in der Qualitätsanmutung deutlich zu. Wie sich das Angebot an Antrieben verteilen wird, ist eine der spannendsten Fragen und womöglich auch existentiell wichtig. Die Elektroautos leiden nicht nur unter Absatzflaute, sondern auch unter drastisch verfallenden Restwerten – wie bei den meisten anderen Herstellern auch. Der Konzern fordert von der Politik Planungssicherheit ein, allerdings nicht mit einer Stimme: durch Bestehenlassen des Verbrennerverbots (Volkswagen), oder durch die Abschaffung des Verbrennerverbots (Porsche).
Vom Thron gestoßen
So oder so müssen attraktive Produkte her. In einer Pressemitteilung hat VW einen Zwischenbericht für die Monate von Januar bis September veröffentlicht. Demnach schätzt das Unternehmen, bis zum Ende des Jahres rund neun Millionen Fahrzeuge auszuliefern. Im Jahr 2023 waren es noch 9,24 Millionen Fahrzeuge. Auf dem Heimatkontinent Europa war Volkswagen lange Zeit führend, doch die Konkurrenz schläft nicht. Sie hat den Platzhirschen in den vergangenen Jahren schon mehrfach vom Thron gestoßen. Zwar variiert die Reihenfolge der monatlichen Zulassungen, doch Volkswagen liegt nur noch selten auf Platz eins.
Nach einer Auswertung von Jato Dynamics in 28 europäischen Ländern erreichten die Wolfsburger im September mit dem kompakten SUV Tiguan (17.670 Einheiten) nur den undankbaren vierten Rang, hinter Dacia Sandero (18.960), Renault Clio (20.708) und Spitzenreiter Tesla Model Y (28.876). Ein Trostpflaster darf sich der Autohersteller in Deutschland aufkleben: Das Kraftfahrt-Bundesamt vermeldet bis Ende September 405.000 zugelassene Volkswagen, das entspricht einem Marktanteil von rund 19 Prozent. Die drei meistverkauften Fahrzeuge in Deutschland kommen von VW: der Golf, der T-Roc und der Tiguan.
VW ist teuer geworden
Mehr Volk wagen, das ist ein gut gemeinter Rat. Die Autos sind teuer geworden. Einen Kleinwagen wie den Dacia Sandero für weniger als 12.000 Euro sucht man bei VW vergebens. Den Lupo gibt es schon lange nicht mehr. Gleiches gilt für den Fox, und der Nachfolger Up wurde eingestellt, obwohl er als Elektroauto richtig gut funktioniert hat. Geholfen hat es nichts, zu unrentabel soll der kleine Flitzer gewesen sein. In der Autoindustrie gilt die Faustregel: kleines Auto, kleine Marge, großes Auto, große Marge. Volkswagen hat sich wie andere Hersteller auf hochpreisigere Segmente versteift, was sich vor allem in Krisenzeiten als Fehler herausstellt. Das Geld sitzt nicht mehr so locker wie einst.
Der günstigste Volkswagen, ein Polo, kostet kaum weniger als 20.000 Euro, das ist der Basispreis, wohlgemerkt. Damit hat VW den Einstiegssektor kampflos aufgegeben. Die kleinen SUV Taigo und T-Cross wirken zwar fesch, sie basieren aber ebenfalls auf der Poloplattform und sind noch teurer. Auch der Golf ist nicht günstiger geworden, die Basis startet erst bei 28.330 Euro. Er zählt nach wie vor zu den Verkaufsschlagern, doch musste er mit Umstellung auf Generation acht ordentlich Federn lassen. Das Modell Sieben wird unter Kennern als „der letzte gute Golf“ angesehen: eingängige Bedienung, gute Funktionalität und Wertigkeit, kein aufgeblasener Schnickschnack.
VW scheint sich verrannt zu haben
Generation Acht mag wie kein anderes Modell für die technologische Vorreiterrolle der Baureihe stehen, doch VW scheint sich verrannt zu haben. Die gesteigerte Funktionsvielfalt erforderte ein größeres Infotainment mit Touchbedienung, dieses lenkt jedoch ab. VW nutzte dennoch gern das Marketingwort „intuitiv“. Für eine misslungene Touchbedienung am Lenkrad, ein langsames und fehleranfälliges Infotainment, die fehlende Beleuchtung am Touchslider für Lautstärke und Klima. Und das, obwohl VW immer für eine eingängige Funktionalität stand, darunter eine einfache pragmatische Bedienung mit klassischen Tasten. Darüber hinaus ließ die haptische Qualität des Golf 8 zu wünschen übrig. Viel harter Kunststoff und die Reduzierung weich geschäumter Teile war für Golffreunde und potentielle Käufer inakzeptabel. Inzwischen hat VW nachgebessert, insbesondere an der Verarbeitung und dem Infotainment.
Fairerweise bleibt festzuhalten, dass bei den Niedersachsen in den letzten Jahren nicht alles schiefgelaufen ist. Sie produzieren nach wie vor richtig gute Autos. Stellvertretend hierfür stehen die Publikumslieblinge Tiguan und Passat. Ihnen merkte man Sparmaßnahmen im Generationenwandel weniger an, hier und da vielleicht in der Materialauswahl. Vom Fahren her waren sie immer vorne dabei, mit guten Motoren, einer großartigen Lenkung, aufwendigen Adaptivfahrwerken und modernen Sicherheitssystemen.
Mit Blick auf das Flottengeschäft schien VW bei den Volumenmodellen mehr Zurückhaltung walten zu lassen, wenn es ans Überarbeiten ging. Derart grobe Schnitzer wie bei einem Golf oder ID 3 gab es ansonsten nicht. ID, was? Ja. Der erste Stromer auf Basis des Modularen Elektrobaukastens, kurz MEB, läutete zugleich die Ära einer neuen Namensgebung ein. Die Modellbezeichnung ID hat sich als Sackgasse herausgestellt, sie ist nicht eingängig, Aussprechen und Schreiben fällt schwer.
Designprobleme, Qualitätsmängel, Softwarepannen
Die Produktion des ID 3 startete ziemlich genau vor fünf Jahren in Zwickau. Ziel unter dem damaligen Vorstandsvorsitzenden Herbert Diess war es, Elektromobilität massentauglich zu machen. Ähnlich, wie der Käfer die Fortbewegung demokratisierte, sollte der ID die Transformation zur Elektromobilität anstoßen und Maßstäbe in der Bedienung setzen. Diess schaute dabei stark in Richtung Tesla, wo die Innenräume minimalistisch ohne klassische Knöpfe ausstaffiert werden. So innovativ wollte VW sein. Vielleicht hätte man erst nach den Kunden schauen sollen. Designprobleme, Qualitätsmängel, Softwarepannen und hohe Preise sorgten bei der wichtigsten Neuerscheinung für Spott und Ärger.
Ein weiterer Kritikpunkt ist das Design. Es ist eines der wichtigsten Kaufargumente und nicht zuletzt deshalb Chefsache bei vielen Herstellern. Die Wolfsburger haben sich noch nie weit aus dem Fenster gelehnt, doch waren ihre oft unauffälligen Modelle zeitlos und auch nach Jahren noch ansehnlich. Unter Diess erblickten recht spezielle Designs das Licht der Straße, neben Golf 8 und ID 3 sieht auch das elektrische SUV ID 4 gewöhnungsbedürftig aus. Ein Unwort, das gerne mit den neuen Modellen in Verbindung gebracht wird, ist Weltauto. Das Design soll rund um den Erdball funktionieren, der wichtige Markt in China spielt keine unwichtige Rolle.
Da macht auch der neueste Wurf, die Elektrolimousine ID 7, keinen großen Unterschied. Vielerorts wird der Kombi, Tourer genannt, als schöner angesehen. Diesem Modell merkt man am deutlichsten an, dass VW Positives angestoßen hat. Der Wagen fährt ordentlich, die Verarbeitung ist gute alte Schule und auch die Bedienung geht weniger hakelig von der Hand, auch wenn der Zentralbildschirm inzwischen Kinoformat angenommen hat. Zwar kommt er mit einer Akkuladung nur halb so weit wie ein klassischer Passat mit Verbrennungsmotor, doch ist er für den richtigen Bedarfsfall ein ordentliches Elektroauto.
Um im hart umkämpften Marktumfeld bestehen zu können, braucht es emotionale Produkte. Kritiker sagen, Volkswagen biete hier zu wenig. Aus der Schmollecke trauern VW-Bus-Fans dem T6.1 hinterher, der Nachfolger T7 wird als unwürdig angesehen. Aufgrund neuer Vorschriften der Crashsicherheit hat er ungewöhnliche Gestalt angenommen, außerdem baut er auf dem modularen Querbaukasten auf, wie der Golf. Inoffiziell wird er deshalb als Sharan-Nachfolger gesehen, weniger als Bulli.
Der elektrische ID Buzz ist optisch an die erste Genration T1 angelehnt, gefällt mit seinem sympathischen Design. Doch haben sich seine Preise gewaschen, die Reichweite müsste zudem größer sein. Die Kaufzurückhaltung ist ein Problem. Emotion ist ein gutes Stichwort: Cabrios von Volkswagen gibt es so gut wie gar nicht mehr. Ein Golf für frischluftliebende Genießer ist schon seit Generation 6 passé. Offenfahren, das geht nur noch mit dem polarisierenden T-Roc samt Stoffverdeck.
Man erinnere sich an die guten alten Zeiten, etwa den Golf 1 GTI. Der war Ende der 70er ein sportlicher Traum für Fans, der sich besser verkaufte als VW annahm. Ein Glück, dass es den GTI noch immer gibt. Fahrspaß ist ein wichtiges Instrument, Kunden einzufangen und an die Marke zu binden. Das hat auch Elon Musk verstanden. Teslas Modelle mögen nicht perfekt sein, bescheren aber gute Laune und verkaufen sich ordentlich. Spaßigere Elektromodelle gibt es von VW zwar mit dem Zusatz GTX, emotional sind sie aber nur bedingt. Bis auf Allradantrieb halten sich die Alleinstellungsmerkmale in Grenzen, hierfür muss der Kunden aber einen saftigen Aufpreis zahlen.
Das alles mag bedrohlich klingen, doch ist Besserung in Sicht. Mit dem ID 2 könnte Ende 2025 endlich ein preiswerter Elektrokleinwagen aus Wolfsburg kommen. Wenn dann auch noch ein GTI im Stil des Konzeptfahrzeugs auf der IAA 2023 herauskommt und die Pläne zum ID Buggy aus der Schublade geholt werden, kann alles wieder gut werden. Zumindest fast alles. Es wird auch noch einige Zeit überzeugende Modell mit Verbrennungsmotor brauchen. Und, darauf lässt sich wetten, heißen ID 2 oder ID 3 alsbald wieder Polo und Golf. Alte Liebe rostet nicht.