Vietnam 1980: Das Land gerät in den Sog einer Flüchtlingswelle und braucht Reformen

Womöglich soll es ein heilsamer Schock sein. Um Wunschdenken einzuhegen, platziert die Zeitung Sài Gòn Giai Phóng (Befreites Saigon) am 13. Oktober 1980 einen Leitartikel, der aufschreckt. Er ist nicht gezeichnet, was darauf schließen lässt, dass die KP-Führung in Hanoi den Inhalt verantwortet. Mit herbem Realismus wird konstatiert, dass im Süden Vietnams die Frage „Wer – wen?“ – die Machtfrage – noch nicht entschieden sei. Mehr als fünf Jahre sind vergangen, seit im April 1975 der Vietnamkrieg mit dem Sieg des Nordens zu Ende ging – und nun dieser Befund.

38.000 KP-Mitglieder in einer Stadt von vier Millionen Menschen

Einen Tag später wird ein Krisentreffen des Parteikomitees von Ho-Chi-Minh-Stadt beginnen. 545 Delegierte vertreten etwa 38.000 Parteimitglieder, eine verschwindende Minderheit in der Vier-Millionen-Metropole, die einst Saigon hieß und die Zitadelle eines von den Amerikanern existenziell abhängigen, antikommunistischen Regimes war. Wer hier regiert, dem sind Feinde sicher. Wer strauchelt, fällt tief. Erst recht, wenn die ökonomische Lage hoffnungslos wirkt und verzweifelt ist. KP-Generalsekretär Le Duan reist zur Parteikonferenz. Sofern die Machtfrage wirklich offen ist, bleibt ihm keine Wahl.

Nach drei Jahrzehnten im Krieg ist die Wirtschaft einem Siechtum verfallen, wie es zu befürchten war, aber in diesem Ausmaß nicht erwartet wurde. Frieden ist kein Konjunkturprogramm, und der Fünfjahrplan von 1976 – 1980 hat Ziele gesetzt, die nicht erfüllt worden sind. Weder kommt die erstrebte Industrialisierung voran, noch kann die Agrarproduktion dafür sorgen, dass die Vietnamesen nicht länger entbehren, was sie zum Leben brauchen. 1979 werden statt der beabsichtigten 21 Millionen Tonnen Lebensmittel nur 13,5 Millionen produziert. Das zwingt dazu, die extrem knappen Devisen für die Einfuhr von Nahrungsmitteln zu verwenden und sich auf eine Importstruktur einzulassen, die 1980 nur zu einem Zehntel aus Investitionsgütern besteht.

Selbst ziemlich klamm, zahlt der Staat den Bauern niedrige Preise. Der Reis soll billig aufgekauft und billig an die Bevölkerung verkauft werden. Ein im Süden florierender Schwarzmarkt ist die Folge. Übervölkerte Städte, in denen sich die Menschen bis Anfang 1975 dank immenser US-Transfers alimentiert sahen, werden zum Sozialfall. Obwohl in Südvietnam über vier Millionen Menschen wieder in ländliche Regionen zurückkehren, kommt das Erschließen neuer Wirtschaftszonen im zentralen Hochland oder in Küstenprovinzen wie Quang Nam und Quang Ngãi nicht vom Fleck. Im Norden sind die Zustände ähnlich prekär, da die Agrarproduktion 1980 auf dem Niveau der späten 1950er Jahre verharrt, doch statt der seinerzeit 16 Millionen nun 25 Millionen Menschen zu versorgen sind.

Die Wirtschaft verfällt erst recht der Stagnation, als China vom Partner im Krieg zum Rivalen im Frieden wird und ab 1978 sämtliche Entwicklungsprojekte in Vietnam einstellt. Was die Sowjetunion wie auch die DDR auf Bitten Hanois zu kompensieren suchen, aber nur in Maßen können. Die UdSSR kommt 1980 für Hilfen im Wert von 3,7 Milliarden Dollar auf, die DDR leistet mit 530 Millionen den größten Beitrag der Freunde Vietnams in Osteuropa.

Hanoi hat in Peking endgültig verspielt, als seine Armee Anfang 1979 den Sturz des ultramaoistischen Pol-Pot-Regimes in Kambodscha nicht nur unterstützt, sondern ermöglicht. China revanchiert sich mit einer „Strafaktion“, lässt Mitte Februar die Volksbefreiungsarmee in die nördlichen Provinzen des missliebigen Nachbarn einmarschieren und hält sie wochenlang besetzt. Für Vietnam eine extreme Belastung, wenn auch eine alles andere als unerwartete Kampfansage des regionalen Hegemons. Die Führung in Hanoi hat der in Peking favorisierten Nachkriegsagenda für Indochina bereits Mitte 1976 getrotzt, als Nord- und Südvietnam zur Sozialistischen Republik Vietnam (SRV) vereinigt wurden – nach drei Jahrzehnten einer feindseligen, von den USA befeuerten Entfremdung.

Die Hoa in Vietnam als „fünfte Kolonne“ der Destabilisierung

Peking muss schlucken, dass weder Nord- und Südvietnam noch Laos zu willfährigen Vasallen-Staaten werden, in denen die Sowjetunion ausgesorgt hat. Als dies scheitert, benutzt China mit den „Hoa“ die in Vietnam lebende chinesische Minderheit, um sich Geltung zu verschaffen. Mit der propagandistischen Botschaft, die Hoa seien ihres Lebens nicht mehr sicher, wird ein Exodus entfacht, der chinesische Familien in Nord- und Südvietnam gleichermaßen erfasst. Allein bis Ende 1978 suchen 160.000 Übersiedler ihr Heil im Reich der Mitte, darunter fast die Hälfte der in Nordvietnam lebenden Hoa.

Dass die Zahl ein Jahr später auf mehr als eine Viertelmillion steigt, zeugt von der Dimension einer Abwanderung, die zum ökonomischen Aderlass wird. Allein in Ho-Chi-Minh-Stadt sind die Hoa im Bezirk Cholon dank ihrer Handelsmacht nicht nur eine Stadt in der Stadt, sondern ein Staat im Staat. Sie beherrschen Warenströme und verfügen über Warendepots, mit denen sich Politik machen und die innere Balance der Stadtgesellschaft erschüttern lässt – ein Grund für den alarmistischen Sound jener Delegiertenkonferenz im Herbst 1980. Dass man am 14. Oktober zusammentritt, aber Angaben über die voraussichtliche Dauer des Treffens vermeidet, gilt als Indiz für den Ernst der Lage. Denn nicht nur Chinesen geraten in den Sog einer Massenflucht – es sind ebenso die Vietnamesen im Süden, denen bewusst ist, dass es in Ho-Chi-Minh-Stadt, Biên Hòa oder Da Nang nie wieder den dank der Amerikaner gewohnten Lebensstandard geben wird. So suchen Anfang der 1980er Jahre etwa eine Million Menschen ihr Heil in der Flucht.

Die Zahlen geben erst nach, als 1983 Übereinkünfte der vietnamesischen Behörden mit dem UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) eine legale und sichere Ausreise vorsehen, während sich zugleich die Lebensumstände verbessern. Bis dahin stranden auf den Philippinen, in Malaysia, Thailand, Singapur und Indonesien etwa 480.000 „Boat People“, die eine gewagte Tour über das Südchinesische Meer hinter sich haben. In der Regel besteigt man an der vietnamesischen Küste Motorboote oder Fischkutter – oft schrottreife Seelenverkäufer – und landet mit viel Glück in den Notcamps der südostasiatischen Nachbarschaft. Der Westen sieht im „Vietnam-Flüchtling“ oder in den „Boat People“ weniger Kriegs- als Systemopfer, deren Schicksal dem kommunistischen Regime anzukreiden ist. Eine Welle des Mitgefühls tost durch Westeuropa und Nordamerika. Dass die USA keinen Cent an Wiedergutmachung oder Wiederaufbauhilfe zahlen, bleibt ausgeblendet. Dass in Südvietnam ganze Landstriche durch das US-Pflanzengift „Agent Orange“ verseucht sind und die Zahl der Kriegsversehrten auch dadurch wächst, nicht minder.

Von denen, die Vietnam verlassen, kommen – so Schätzungen des UNHCR – Hunderttausende nie dort an, wo sie hinwollen. Sie sterben, wenn an Bord Trinkwasser und Lebensmittel vor der Zeit ausgehen, sie ertrinken bei schwerer See – oder sie werden im Golf von Thailand zur Beute von Piraten, ausgeraubt und über Bord geworfen. Die Schnellboote der Freibeuter ziehen die Schiffe der Flüchtlinge mit hoher Geschwindigkeit hinter sich her, bis sie volllaufen und die Schreie der Todgeweihten im tanzenden Spiel der Wellen verstummen.

Chinas Reform-Mentor Deng Xiaoping

Um seiner Bürger willen und um als Staat international nicht weiter an Prestige zu verlieren, muss Vietnam deshalb Abhilfe schaffen. Als Le Duan am vierten Tag der Oktober-Konferenz in Ho-Chi-Minh-Stadt spricht, klingt manches wie ein Eingeständnis. Man müsse ehrgeizige Industrialisierungspläne vorerst aufgeben. Marktwirtschaftliche Reformen seien so unerlässlich wie private Produzenten und Händler. Beginnen müsse man in der Landwirtschaft. Unverkennbar schimmern Muster aus China durch, wo sich im Dezember 1978 die KP Chinas in Peking auf Geheiß Deng Xiaopings zur vorsichtigen Abkehr vom Maoismus durchringt.

Für Vietnam kann es im Oktober 1980 kaum anders sein. In Ho-Chi-Minh-Stadt, dem Ort eines historischen Triumphes über die USA, beginnt eine Politik der Erneuerung (vietnamesisch: „Đoi M0i“) Fuß zu fassen, auf dass mit dem Krieg gewonnene Macht nicht im Frieden verloren geht. Als China im Februar 1979 in Nordvietnam interveniert, beschwören die Kommentatoren der Zeitung Nhan Dan (Das Volk) jeden Tag, dass der „vietnamesische Tiger“ nicht nur wachsam und stark, sondern berufen sei, verblendeten Chinesen „die Augen zu öffnen“. Anderthalb Jahre später scheint der „chinesische Tiger“ am Zug zu sein.

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