Die Psychologin Anne Otto sagt im Freitag einen Satz, der eigentlich selbstverständlich ist, aber doch im Hintergrund der öffentlichen Debatte allzu häufig verfälschend mitschwingt: „rufen mich Journalistinnen jedes Mal an, wenn wieder ein Angriff stattgefunden hat, und fragen mich nach der Psychologie des Täters: Wie tickt er? Meine Antwort ist immer die gleiche: Ich kenne den Täter nicht, weiß nicht, was er erlebt hat. Und das muss ich auch gar nicht.. Der Hass ist kollektiv, nicht individuell.“
Allerdings hat der „kollektive“ Hass natürlich unterschiedliche Folgen, sobald er auf unterschiedlich gewordene Persönlichkeiten trifft.Zweifeln darf man an der Aussage, wir wüssten genug. Tun wir das wirklich?
Ich möchte mit einer Anekdote beginnen. Zu den 68ern stieß ich, als rechte Studenten während eines Uni-Streiks linke Studentinnen tätlich angriffen. Vorgestern war das nicht. Und links war das in meinem Fall auch nicht – obwohl ich natürlich schon wusste, worum es ging. Aber Frauen schlägt man nicht. Niemanden schlägt man.Punkt.
Aber es ist nicht der Punkt, auf den ich hinaus will. Die linken Frauen kamen ins Gespräch mit mir , und alsbald saß ich in diversen Diskussionszirkeln und einem Faschismus-Seminar – zu dem man wiederum allerlei Literatur lesen sollte. Woher nehmen? Kein Problem, meinte eine der Kommilitoninnen.
Also trotteten wir zum naheliegenden größten Buchgeschäft der Stadt, und sie zeigte mir, wo die Bücher zu finden waren. Ok, aber womit sollte ich das bezahlen. Da ich immer noch nicht begriff, schob sie einiges unter ihren Mantel, und als der Bedarf gedeckt war, verließen wir den Laden. Nein, da müsste ich mir keine Gedanken machen. Es würde ja niemand geschädigt. Außer den Kapitalisten. Das motivierte wohl auch jene Kommilitonin, die im Supermarkt das verpackte Fleisch in den Slip schob und vor allem wohl deshalb ungeschoren durch die Kasse kam, weil es der Kassiererin zu peinlich war, zu fragen, woher das Blut kam, das der Studentin am Bein herunterlief.
Worauf ich hinaus will: damals begann ein Erosionsprozess, in dem bewusst Regeln gebrochen wurden (z.B. vormals Kriminelles als Normal umgedeutet wurde), und in dem vormals „geheiligte“ Institutionen – oft zu Recht – infrage gestellt und angegriffen wurden. Höhepunkt die Aktionen der RAF, die scheinbar selbst in solide bürgerlichen Kreisen Sympathien genossen.
Ich war immer in Sekundenschnelle auf der Palme, wenn rechte Medien jede gesellschaftliche Fehlentwicklung auf die 68er zurück führten. Bei der Entwertung überkommener Regeln kann man das aber schon so sehen. Und wenn Kindern nicht von Anfang an Regeln und Werte vermittelt werden – auch durch Autoritäten – , dann scheint es mir relativ logisch zu sein, dass später insbesondere Menschen, die solche Krücken brauchen, weil sozusagen die eigene Muskelkraft oder der Gleichgewichtssinn defizitär ausgefallen sind, „aus der Rolle“ fallen.
Erschwerend kommt eine fatale Missdeutung der Summerhill-Erziehung des A.S.Neill hinzu, die andererseits vielleicht auch Wege der Lösung aufzeigt, wenn man sie ohne linken Tunnelblick oder Defizite im Leseverständnis liest, wie sie seit PISA bekannt sind. Was bei Neill nämlich nicht-autoritäre Erziehung INNERHALB DEMOKRATISCH GESETZTER REGELN und Regeln zum Eigenschutz von vorhandenen Autoritäten (z.B. Neill selbst) gedacht war, wurde hierzulande flugs in ANTIAUTORITÄRE Erziehung umgedeutet – und damit in den bereits laufenden, oben beschriebenen, Erosionsprozess eingeordnet , der letztendlich das Ziel hatte, dem staatlichen Leviathan Zähne und Klauen zu ziehen. Vergessen wurde dabei, dass jener Leviathan ja just deswegen geschaffen wurde, weil menschliche Gesellschaften offenbar dazu neigen, dass Menschen schon mal des Menschen Wolf werden, und man deshalb etwas braucht, was davor schützen kann. Schießt man beim Versuch, den Leviathan zu vermenschlichen, übers Ziel hinaus und untergräbt auch Bereiche, die weiterhin dazu erforderlich sind, dann braucht man sich nicht über Zustände zu wundern, wie sie derzeit zu beobachten sind. Und auch nicht über autoritäre Entwicklungen. Fallen Gesellschaften wieder in den Wolfs-Modus zurück, ist es wenig verwunderlich, dass Mehrheiten nach starken Führern rufen und vor Anhängern des differenzierten Denkens die Ohren verschließen, sie gar bekämpfen, weil sie Angst davor haben, durch sie ihre letzten Sicherheiten auch noch zu verlieren.
Demokratisch gesetzte Werte und Regeln beruhen nicht zuletzt auf historischen Erfahrungen. Da die 68er diese auf Kapitalismus und Faschismus beschränkten, machte sie einerseits von rechts angreifbar, und führte zu einer allzu pauschalen Bekämpfung des „Systems“, was zunehmend auch in den Mainstream einsickerte. Man beachte nur, wie Reporter Politiker stalken, weil die ihnen nicht antworten wollen, oder wie ein Markus Lanz ins Wort fällt und mit einer verbalen Stalinorgel über Teilnehmer herfällt, die partout nicht das sagen wollen, was ER gerne hören will. Das sind reale , in ihrer Kleinkindhaftigkeit hängen gebliebene ,Rollenvorbilder, die in den asozialen Medien noch weit übertroffen werden. Auch sie ein Produkt „kultureller“ Freisetzung wenig sozialisierter Verhaltensmuster, wie sie auf 68 folgte.
Was aktuell von manchen als „westliche“ Werte diffamiert wird, ist unter solchen Voraussetzungen fundamental missverstanden – und füttert rechte Ressentiments. Was mir in meiner Ausbildung vordringlich vermittelt wurde, dass wir nämlich nicht in Utopia leben, weshalb man tunlichst immer zwischen beispielsweise Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit unterscheiden müsse, um der GANZEN WIRKLICHKEIT gerecht zu werden, scheint vielen fremd. Auch , weil sie – Beispiel Grundgesetz – nie von der Gesellschaft und ihren Repräsentanten wirklich verinnerlicht wurden. Als Beispiel möchte ich die sogenannte Schuldenbremse nennen, die durchaus gesetzlich geregelt werden kann. Sie aber quasi gleichberechtigt neben den Schutz menschlichen Lebens und menschlicher Würde zu stellen, zeugt für mich von weitgehender politischer Verblödung und einer Banalisierung der Verfassung. Mal abgesehen von der Kleinkariertheit , die nötig ist, um überhaupt erst auf so eine Idee zu kommen. Die Verfassung wird zum Werkzeugkasten für politische „Klempner“ gemacht, die damit Regierungen vom vermeintlichen „Einbruch“ in imaginierte heilige Staatskassen abhalten wollen. Was Wunder, wenn Menschen, die ohnehin nicht so genau wissen, was warum im Grundgesetz und in anderen Gesetzen steht, sich nicht weiter darum scheren und selbst definieren, was sie für Recht und Gesetz halten (z.B. Wann die Ampel rot ist, bestimme ich!)– und wen für einen Gegner desselben. Wie lange dieser Prozess – auch von rechts – schon läuft, mag ein Spruch des ehemaligen Innenministers Höcherl (CSU!!!!!) von 1963 (!!!!!!!) verdeutlichen, seine Beamten könnten nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unterm Arm herumlaufen (genau darauf sind Beamte vereidigt – wenn man es nicht allzu wörtlich nimmt).
Wie das real auf Beamtenebene aussehen konnte, habe ich selbst auf dem vormaligen hiesigen Oberschulamt erlebt. Auf den Einwand, ein bestimmtes Vorgehen verstoße gegen einen rechtskräftigen Gerichtsentscheid, sagte ein relativ „hoher“ Beamter, man mache das trozdem. Ich könne mich ja durch alle Instanzen rauf und runter klagen. Das tat ich nicht, sondern wandte mich direkt an den CDU-Abgeordneten meines Wahlkreises. 14 Tage später war die Sache entsprechend dem Gerichtsurteil gelaufen, Ich hatte auf die autoritäre Schiene gesetzt. Jahre später log selbiger Beamte vor Gericht und gewann., Als ich, wiederum Jahre später, einem Rechtsanwalt davon erzählte, sagte der spontan, das damalige Urteil widerspräche allem, was unserem Rechtsstaat hoch und heilig sei. Dem Oberschulamt – wie es sich heute nennt, weiß ich nicht – sind Gymnasiallehrer letztendlich ausgeliefert. Wie wirkt sich da wohl ein solcher Umgang auf deren Verfassungs- und Rechtsverständnis aus?
Dem Gericht ist allerdings nicht allein ein Vorwurf zu machen. Vom Verwaltungsgericht, wo die Distanz zur Macht noch am größten ist, hatte ich ohne Wenn und Aber Recht bekommen. Dagegen ging der besagte Beamte vor dem VGH vor und berief sich auf ein Urteil, das vorn und hinten nicht passte. Mein GEW-Anwalt, den ich eigentlich wegen Inkompetenz nicht haben wollte, vertat sich auch noch in der Seitenzahl und argumentierte auf Basis eines Urteils, das gar nicht zur Debatte stand und überhaupt nicht passte. Als ihm das selbst nicht mehr ganz geheuer war, kontrollierte er nicht, ob er sich vielleicht vertan hatte, sondern legte kurz vor dem Gerichtstermin das Mandat nieder. Der Nachfolger machte gar nichts und saß mehr oder weniger schweigend im Gerichtssaal. In der Pause raunte er mir zu, so etwas wie da habe er noch nie erlebt. Ich sagte oder beantragte gelegentlich etwas, wurde aber abgeschmettert oder auf später vertröstet. Später kam nie.
Der Beamte vom Amt, der vor der Verhandlung dermaßen Schiß gehabt hatte, dass man meinte, jeden Moment könnnte das Gerichtsklo explodieren, blühte mehr und mehr auf. Und krönte das ganze auch noch mit einer Lüge. Dann ging Macht vor Recht und er gewann. Ab da machte es Sinn, dass ich nicht mehr Lehrer war und den Schülern nicht mehr erkären konnte, wie der Rechtsstaat in der Praxis funktionierte.
„Verfassungspatriotismus“ stelle ich mir jedenfalls anders vor. Im Gegenteil scheint ein stiller Widerstand in Politik und Verwaltung, dem insbesondere vermeintliche „Linkslastigkeiten“ wie das in homöpathischen Dosen enthaltene Sozialstaatsprinzip sowie allzu großzügige Freiheitsrechte von Anfang an ein Dorn im Auge zu sein schien.. Aktuell ist es u.a. das Asylrecht. So wurden und werden Staat und Gesellschaft über die Jahre von unterschiedlichen Kräften sturmreif für AfD & Co gemacht, während der tatsächliche Gehalt des Grundgesetzes vielen Bürgern ein geheimnisvolles Unbekanntes geblieben sein dürfte, das mitnichten so etwas wie „Patriotismus“ befeuert. It’s the economy, stupid! Die „Unfähigkeit zu trauern“ in einer „vaterlosen Gesellschaft“, um den Schlagwort-Cocktail noch etwas zu erweitern.
Von dem „Abgrund an Landesverrat“ (Pressefreiheit) eines Kanzlers Adenauer (1962) – der sich einen (Ex-Nazi) Globke hielt – über die späte Gleichstellung unehelich geborener Kinder (1970) bis zur heutigen Migrationspolitik und der aktuellen Forderung nach Kürzung – bzw. Streichung in besonderen Fällen- des verfasssungsgerichtlich grundierten Bürgergeldes zieht sich die politische Verfassungs-Sozialisation der Bürger, die nunmehr zunehmend das praktizieren, was sie auf diese Weise gelernt haben, anstatt z.B: die vor-faschistischen historischen Erfahrungen je kennengelernt zu haben, die AUCH in die Entwicklung der Menschenrechte eingeflossen sind. Und dazu, wie gesagt, die pauschale Verächtlichmachung eines„Systems“ von links, das sicher besser ist als sein Ruf, sonst würden die alle ja nicht ausgerechnet HIER leben wollen….. Hätten sie übrigens nicht gedacht, die Utopisten, dass die Rechten ihr Denken und ihre Methoden auch für sich nutzen würden……
Nun ist es also passiert. Unvermeidlich vielleicht, wenn man wieder bei Neill nachschaut. Kinder, die aus autoritären Strukturen kamen, brauchten in Summerhill eine etwas chaotische Übergangsphase. Je autoritärer, desto länger. Kann man vermuten, dass der Kampf der 68er gegen faschistoide und autoritäre Strukturen – oder die Entwicklungen im ehemaligen Ostblock – so etwas ähnliches in den Gesellschaften ausgelöst haben, und dass wir jetzt realisieren, dass wir neue, demokratisch zustande gekommene Strukturen, Regeln und Werte brauchen, um zu gesellschaftlicher Normalität zu kommen? Nähert sich unser „Chaos“ einem Ende, das hoffentlich nicht wieder in autoritären Staatsformen mündet? Das wäre jetzt zu klären. Eine Abrüstung unseres verbalen und physischen Waffensystems wäre Voraussetzung. Ein funktionierender Sozialstaat und mehr Verantwortlichkeit bei Reichen und Superreichen wären eine Einladung an die Ausgegrenzten. Willy Brandt hatte es versucht. Und nie waren Emigranten und Gegner des Nazi-Sytems näher an der schweigenden Mehrheit. Eine Chance die Gesellschaft tatsächlich mit dem Grundgesetz zusammen zu bringen. Was aber schrien die Linken? Sozialfaschisten! Und dann der Sturz mit freundlicher Unterstützung der DDR. Danach begann das Ende der SPD und der Allparteien-Weg ins neo-liberale Märchenland, das uner anderem den Lindner gebar. Die Grünen versuch(t)en das zu durchbrechen. Daher der gegenwärtige Hass und die Sabotage der FDP. Aber – wenn überhaupt jemand – sind sie – manchmal etwas ungelenke – Verfassungspatrioten.
Womit sich das Stichwort Migration anbietet. Wie soll man sich in eine Gesellschaft integrieren, die selbst, außer einer dumpfen Ahnung, nicht so genau weiß, wer oder was sie ist. Und schon sind wir beim Ruf verunsicherter junger Muslime nach der erträumten Geborgenheit eines Kalifats (Führerstaats).
Also noch einmal :WIR haben zuerst selbst etwas zu klären. Dann klappt es vielleicht auch mit dem Muslim. Die Neigung zur Sozialpädagogisierung kann allenfalls Reparaturarbeit hervorbringen, die den Zuständen, Sisyphos gleich, hinterherrennt, ohne je an ein Ziel zu kommen.
Nachtrag: Claus Leggewie hat 2008 – und neuerdings darauf zurückgreifend – Ähnliches mit deutlich weiterem Horizont und etwas anderen Gedanken formuliert. Nachzulesen unter https://www.deutschlandfunk.de/auf-wiedervorlage-die-antiautoritaere-erziehung-100.html. Sein letzter Satz:
“ Die Anfälligkeit für Rechsradikalismus beruht also oftmals auf einer konfliktbeladenen Adoleszenzkrise, die nicht auf normale und übliche Weise gelöst werden kann, weil Elternhaus und Schule nicht genügend Aufmerksamkeit geboten und Grenzen gesetzt haben. Es wäre gut, wenn dies bei der Bekämpfung der immer noch akuten rechtsradikalen Gewalt berücksichtigt würde.“
So also könnte es aussehen, wenn kollektiver „Zeitgeist“ auf problematsche Einzelschicksale getroffen ist.