Verlust Aberwitzig Generationenkonflikt Fluchtgeschichte Suche | Die Nominierten zum Preis jener Leipziger Buchmesse in jener Kategorie Belletristik

Verlust Aberwitzig Generationenkonflikt Fluchtgeschichte Suche | Die Nominierten zum Preis jener Leipziger Buchmesse in jener Kategorie Belletristik

Von Generationenkonflikt, Verlust und Fluchtgeschichten: Die Nominierten zum Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik

Grafik: der Freitag


Die totale Gegenwart

Kristine Bilkau schildert das Ringen zweier Frauen um Identität

Kristine Bilkaus Romane sind stets am Nerv der Zeit geschrieben, so auch ihr neues Prosawerk Halbinsel, in dessen Zentrum eine Mutter und eine Tochter stehen. Nachdem sich Letztere vollends für den Umweltschutz aufgeopfert und schließlich angesichts des Stresses einen Nervenzusammenbruch erlitten hat, nimmt Erstere sie wieder zu Hause auf. Doch die Antriebslosigkeit von Linn verschwindet trotz Annetts mütterlicher Sorge nicht. Sinnleere sowie der Optimierungs- und Leistungszwang haben die Mittzwanzigerin gänzlich aus der Bahn geworfen. Nur war das früher alles besser, schlechter oder einfach anders? Mehr und mehr entwickelt sich zwischen den beiden Frauen ein Generationenkonflikt. Die nordfriesische Halbinsel, der Haupthandlungsort, erweist sich dabei nicht nur als Chiffre eines gegen den urbanen Lärm gerichteten Idylls, sondern versinnbildlicht überdies einen Zwischenraum, in dem Vergangenheit und Gegenwart, mithin die Vorstellungen unterschiedlicher Lebensbiografien aufeinandertreffen. Gewahr werden wir eines poetisch verfassten Romans über die Suche nach Identität und das zeitlose innere Streben nach Emanzipation.

Kein Bild aus Splittern

Esther Dischereit hat einen dichten Roman über die Nachwirkungen der Shoa geschrieben

Alle, die in dieser Welt zu Hause waren, legen Splitter beiseite oder legen sie nicht beiseite oder rahmen sie ein. Aber jedes Mal fehlen Teile, Hunderte. Es will kein Bild entstehen“ – zu fragmentarisch ist das, was an Erinnerungen und persönlichen Erfahrungen von der Shoa übrig geblieben ist. Mit zahlreichen Ortswechseln und Zeitsprüngen, überhaupt einem großen Figurenensemble schildert Esther Dischereit, geboren 1952 im hessischen Heppenheim, in ihrem bei dem Kleinverlag Maro erschienenen Roman Ein Haufen Dollarscheine die mehrere Generation umfassende Geschichte einer jüdischen Familie. Indem die Autorin verschiedene Perspektiven auf deren Entwicklung im und nach dem Zweiten Weltkrieg wirft, schafft sie eine Poetik der Brechungen, die jedweden Versuch einer linearen Biografieschreibung unterläuft. Die Geschichte aus Verfolgung und Unterdrückung, aus Hass und Tod, sie steht ganz im Zeichen eines irreversiblen Verlustes der Heimat. Entstanden ist dadurch ein Buch, das schon in seiner Form das Schicksal in der Diaspora, insbesondere nach 1945, widerspiegelt.

Was F. Escher erlebt

Wolf Haas beeindruckt aufs Neue mit absurder Komik in einem spannenden Plot

Entführung, Lösegeldforderungen, sogar ein Mord (wenn auch ohne Vorsatz und Kalkül) – das ganze Arsenal des Schreckens fährt Wolf Haas in seinem neuen Roman Wackelkontakt auf, der eigentlich recht harmlos beginnt: nämlich mit dem wartenden Trauerredner Franz Escher. Um die Zeit bis zur Ankunft des Elektrikers zu überbrücken, liest er ein Buch. Darin trifft er auf den italienischen Mafioso Elio Russo, der nach seinen Verbrechen selbst im Gefängnis die Rache der Geschädigten fürchtet. Zur Ablenkung in der nächtlichen Panik greift auch er zu einem Buch, das zu Überraschung aller wiederum von Franz Escher erzählt, der übrigens nicht zufällig auf den Illusionskünstler M.C. Escher verweist – zwei auf den ersten Blick völlig unterschiedliche und vermeintlich allzu komplex arrangierte Storys, die jedoch sukzessive aufeinander zulaufen. Mit absurder Komik und Leichtigkeit stößt Haas’ neues Prosawerk eine wendungsreiche Auseinandersetzung mit Realität und Trug, mithin Literatur und Faktizität an. Dass die Handlung noch mit Elementen des Kriminalromans spielt, für die der Autor bekannt ist, erzeugt überdies Spannung. Sogkraft: garantiert.

Sein Held heißt Paul

Christian Kracht entführt uns auf einen Trip, der uns auf spätromantische Spuren führt

Fast immer eint die Protagonisten im literarischen Kosmos des 1966 in der Schweiz geborenen Christian Kracht die Suche. Ob in Faserland, Eurotrash oder in Imperium – immerzu treibt sie ein Ziel in die Ferne. In Air, einem Text, in den nicht einmal die meisten Journalist:innen vor Veröffentlichungsdatum Einblick erhalten, verschlägt es den Helden Paul, seinerseits Innenarchitekt und Dekorateur, durch einen Auftrag eines Designmagazins von der schottischen Stadt Stromness auf den Orkney Inseln nach Norwegen. Einen „Traum“ verspricht uns der Pressetext des Verlags Kiepenheuer & Witsch, eine Reise im „Geiste einer radikalen Romantik“, die einen Kontrapunkt zur „spätmodernen, leerlaufenden Zivilisation“ zu setzen vermag. Was dürfen wir erwarten? Wie schon in seinen vergangenen Romanen dürfte sich der bekannteste und zugleich geheimnisvollste Pop-Autor der deutschsprachigen Belletristik auch in seinem neuen Text reichlich der literarischen Tradition bedienen, Klassiker zitieren und uns dadurch in ein verspieltes Labyrinth aus Referenzen entführen, das aller Wahrscheinlichkeit nach nicht frei von Witz sein dürfte.

Wütend, zornig

Cemile Sahins Roman „Kommando Ajax“ ist eine furiose Roadnovel

Wie in einem Thriller rast die Handlung in Cemile Sahins Roman Kommando Ajax vor unserem inneren Auge vorüber, mit harten Schnitten, diversen Beschleunigungseffekten und findigen Kameraeinstellungen. Dieses filmische Design passt pointiert zur Story, deren Zentrum ein Attentat bildet. Um den Tod Kekos entspinnt sich eine Fluchtgeschichte. Sie reicht von Kurdistan und der türkischen Unterdrückung der Minderheiten bis in die Niederlande, wo eine von populistischen Politiker:innen genährte Fremdenfeindlichkeit herrscht. Was die 1990 in Wiesbaden geborene, kurdisch-alevitische Schriftstellerin und Künstlerin in ihrem Roman verarbeitet, ist die erhitzte Debatte um Migration und Integration in den westlichen Nationen. Wie viel Fremdheit erträgt eine Gesellschaft? Und wie viel Humanität braucht eine offene Gesellschaft? Jenseits dieser Grundsatzfragen handelt es sich bei Kommando Ajax ebenso um eine wütende, zornige Roadnovel, deren Dynamik und formale Spielerei mit den gängigen Konventionen des Erzählens souverän brechen.

Halbinsel Kristine Bilkau Luchterhand 2025, 224 S., 24 €

Ein Haufen Dollarscheine Esther Dischereit Maro-Verlag 2024, 312 S., 24 €

Wackelkontakt Wolf Haas Hanser Verlag 2025, 240 S., 25 €

Air Christian Kracht Kiepenheuer & Witsch 2025, 224 S., 25 €

Kommando Ajax Cemile Sahin Aufbau Verlag 2024, 352 S., 25 €

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